: Schätzer sehen Waigels Abgrund
■ Mindestens 16 Milliarden Mark Steuern fehlen allein in diesem Jahr, sagt der Arbeitskreis Steuerschätzung. 1998 fehlen gar 20 Milliarden. SPD spricht von "Verwüstung des Steuerrechts"
Berlin/Bonn (AFP/rtr) – Finanzexperten aus dem Arbeitskreis Steuerschätzung erwarten für das laufende Jahr Steuerausfälle von 16 Milliarden Mark für Bund, Länder und Gemeinden. Für das nächste Jahr rechne der Arbeitskreis mit Mindereinnahmen von 20 Milliarden Mark, sagte Klaus-Peter Fox vom saarländischen Wirtschafts- und Finanzministerium gestern am Rande der Arbeitskreis-Sitzung.
Diese Zahlen hatte zuvor auch ein weiteres Mitglied der Steuerschätzkommission, der Finanzexperte des Kieler Instituts für Weltwirtschaft, Alfred Boss, genannt. Die Erwartungen der Experten zu den Steuerausfällen 1997 und 1998 lägen demnach leicht unter den Schätzungen des Bundesfinanzministeriums, aus dem eine Prognose für den Arbeitskreis von 18 Milliarden Mark Ausfällen für dieses und 25 Milliarden für das nächste Jahr bekannt geworden war.
Der SPD-Finanzexperte Joachim Poß erklärte in Bonn, für 1998 müsse zudem mit sechs Milliarden Mark zusätzlicher Steuerausfälle durch den Abbau des Solidarzuschlages gerechnet werden, die allein den Bund beträfen. Poß ging davon aus, daß das für heute erwartete offizielle Ergebnis des Arbeitskreises Steuerschätzung nur geringfügig von dem Schätzvorschlag des Bonner Finanzministeriums abweichen wird.
Weiter sprach er von einer „verheerenden finanzpolitischen Lage“ und betonte, das ganze Ausmaß werde erst bei einem mittelfristigen Vergleich deutlich. Noch vor zwei Jahren bei der Steuerschätzung vom Mai 1995 sei das gesamte Steueraufkommen für 1997 auf 962 Milliarden Mark und für 1998 auf 1.020 Milliarden Mark geschätzt worden. Bei den nachfolgenden Steuerschätzungen sei das Volumen jeweils so nach unten korrigiert worden, daß sich bis November 1997 eine Steuerdifferenz von insgesamt 168 Milliarden Mark für 1997 und von 208 Milliarden Mark 1998 ergebe.
Poß kritisierte, die Steuerausfälle seien Folge der „Verwüstung des deutschen Steuerrechts“. Die Steuerschätzung führe zu grundlegenden Fragen der Besteuerung an Bundesfinanzminister Theo Waigel (CSU). So sei der Anteil der Körperschaftsteuer und der veranlagten Einkommensteuer am gesamten Steueraufkommen in den vergangenen Jahren deutlich gesunken. Auch der Vorsitzende der Steuergewerkschaft, Dieter Ondraczek, verwies darauf, daß die Einkommensteuer „rapide abgebrochen“ sei. Im Deutschlandradio Berlin machte er Steuerschlupflöcher dafür verantwortlich und sagte, die größten Nutznießer seien die Unternehmen. Wegen der hohen Arbeitslosigkeit stagnierten nun aber auch die Lohnsteuer-Einnahmen.
Waigel wollte gestern abend die Fraktionsvorsitzenden von CDU/ CSU und FDP sowie die Haushaltspolitiker über die Konsequenzen informieren. Für heute sind zwei Gespräche der Koalitionsspitzen angesetzt.
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