: Wohlkläge im Leidensreigen
■ Paolo Maurensigs „Spiegelkanon“über untröstliche Geiger
Das klassische Repertoire in der Musik lebt auch in unseren Cross-over Zeiten unverändert fort. Warum also nicht auch in der Literatur auf den Wohlklang im vertrauten Ambiente setzen?
Der 1943 geborene, in Udine lebende Paolo Maurensieg hat einen Künstlerroman geschrieben, in dem alles, was über die Musik gesagt wird, einer vergangenen Epoche entstammt, der des Fin de siécle. Ein heilbringen-des, bis in die Unsterblichkeitswünsche der Menschheit ragendes Ordnungsprinzip erwarten die Musizierenden von der Musik. Sie erinnern dabei an Orchestermusiker, die alles, was sie an Exzessivem aufbringen können, in ihre musikalische Darbietung verlegen.
Bei soviel Musikliebe bleibt naturgemäß der oberflächliche Sehsinn schwach. Alles mit den Augen Wahrgenommene in diesem Buch bleibt konturlos, unterwirft sich den schmerzvollen Achterbahnfahrten derjenigen, die die Musik zu sehr lieben.
Ein Aristokrat ersteigert eine Violine, möchte sie gerade in seinem Hotelzimmer genauer in Augenschein nehmen, als ihn ein „Liebhaber der Musik“aufsucht. Dieser erzählt ihm von der Begegnung mit einem zerlumpten Stehgeiger in einem Wiener Heurigenlokal. Im verrauchten Wirtshaus spielte er Chopins Chaconne erstklassig. Später erzählt dieser jenem seinen Leidensreigen durch verschiedene Lebensphasen. Zuerst vergöttert er einsam eine umfeierte Sopranistin, dann erfährt er auf der renommiertesten Violinschule Europas die „eisige Kälte der Perfektion“, und schließlich wird er als Gast in einem Tiroler Schloß mit seiner einfachen Herkunft, aber auch mit den Gehässigkeiten seines adligen Freundes konfrontiert. Am Ende des Romans wird ein Familiengeheimnis gelüftet. Dabei erweist sich die ersteigerte Violine als das entscheidende Bindeglied.
Die Ereignisse werden in mündlich-fiktiven Rückschauen vorgetragen, die darunterliegende Konstruktion findet allerdings im musikalischen Aufführungsprinzip des Kanons ihr Muster. Nacheinander setzen drei Stimmen ein, deren Erfahrungen sich überlappen, ohne daß die eigentlichen Zusammenhänge für den Leser erkennbar wären. Am Ende spiegelt sich in der fast schon in Vergessenheit geratenen ersten Stimme der inspirative Urgrund aller Verflechtungen wider.
Ein gewissenhaft komponiertes Buch, das wehmütig in den Schatten des Unwiederbringlichen taucht. Wer im Alten allerdings Neues entdecken will, geht bei der Lektüre leer aus. Stefan Pröhl
Paolo Maurensieg: „Spiegelkanon. Canone Inverso.“Aus dem Italienischen von Irmela Arnsberger. Hofmann und Campe 1997, 204 S.
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