piwik no script img

Ein Prozentpunkt hin, zwei Punkte im Sinn

■ Chaos in Bonn zu Mehrwertsteuer und Rentenreform. Jedem ein eigener Vorschlag

Bonn (taz) – Die Verwirrung um Mehrwertsteuererhöhung und Rentenreform hat sich noch einmal gesteigert. Nach dem Vorschlag des rheinland-pfälzischen Ministerpräsidenten Kurt Beck (SPD), die Mehrwertsteuer um drei Prozentpunkte zu erhöhen, verstehen selbst SPD-Politiker die Welt nicht mehr. Schließlich hatten die Sozialdemokraten bisher das Vorhaben der Koalition abgelehnt, die Mehrwertsteuer auch nur um einen Prozentpunkt zu erhöhen.

Die Koalition trägt zu der allgemeinen Verwirrung bei, indem sie über eine zweiprozentige Mehrwertsteuererhöhung debattiert und die Rückgängigmachung der Rückgängigmachung einer auf 1998 vorgezogenen Rentenreform erwägt. Eine Erhöhung der Mehrwertsteuer um drei Prozent hat Bundeskanzler Kohl gestern abgelehnt.

Auch SPD-Chef Oskar Lafontaine sowie die SPD-Fraktion haben sich gegen den Vorschlag Becks ausgesprochen. Lafontaine sagte, bei einer solch großen Umfinanzierung müsse die Verteilungswirkung mitbedacht werden, da die Verbraucher die höhere Mehrwertsteuer zahlen müßten, die Hälfte der Entlastung aber allein den Arbeitgebern zugute komme. Lafontaine erneuerte das Angebot der SPD, die Mehrwertsteuer zur Entlastung der Rentenkasse um einen Prozentpunkt zu erhöhen. Die SPD sei jederzeit zu einer solchen Vereinbarung mit der Koalition für 1998 bereit, solange die Umfinanzierung nicht mit dem Inkrafttreten der Rentenstrukturreform schon 1998 verbunden sei.

Die stellvertretende Fraktionsvorsitzende Ingrid Matthäus- Maier nannte den Vorschlag Becks ökonomisch schädlich und unter sozialen Gesichtspunkten nicht vertretbar. Der finanzpolitische Sprecher Joachim Poß sagte: „Der Vorschlag hat mich ratlos gemacht.“ Der Vorstoß Becks, so Poß, werfe viele Fragen auf. Der Vorschlag, Handwerker nicht nur von der Mehrwertsteuererhöhung zu befreien, sondern den Steuersatz für diese Personengruppe sogar zu senken, sei wohl nicht mit EU-Recht vereinbar. Zudem sei offen, warum nur Handwerker und nicht auch Dienstleister entlastet werden sollten. Problematisch sei auch der Vorschlag einer Luxussteuer. Welche Güter gehörten dazu? Schon ein Mercedes der A-Klasse oder erst der S-Klasse? Mit Steuervereinfachung habe dies nichts zu tun.

Die finanzpolitische Sprecherin der CDU, Gerda Hasselfeldt, sagte, die SPD täusche mit ihrer neuesten Luftnummer nur Handlungsbereitschaft vor. SPD-Chef Oskar Lafontaine wirft dagegen der Koalition vor, nicht verhandlungsfähig zu sein. Jeder Koalitionspartner verlange etwas anderes. So lautet der neueste Vorschlag von Fraktionschef Wolfgang Schäuble, die Mehrwertsteuer um zwei Prozentpunkte zu erhöhen. Gerda Hasselfeldt hingegen sagte, ein Prozentpunkt reiche aus. Anderenfalls bestehe die Gefahr, daß die Inflationsrate steige und die Nachfrage sinke.

Auch das Vorziehen der Rentenstrukturreform auf 1998 ist wieder ungewiß. Nachdem die Koalition die Reform am 14. April für 1999 beschlossen hatte, am 5. August für 1998, am 23. September für 1999 und am 10. November wieder für 1998, sieht es nach einem erneuten Umfaller aus. Schäuble bezeichnete ein Vorziehen der Reform als „nicht mehr den entscheidenden Punkt“. Markus Franz

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen