Klassengesellschaft unter den‘Kassenärzten

■ Rund 200 niedergelassene Ärzte in Berlin verdienen über eine Million Mark pro Jahr. Viele ihrer Kollegen haben dagegen finanzielle Probleme, und eine Welle von Praxispleiten droht

Berlins Sozialämter müssen sich auf eine ungewohnte Klientel vorbereiten. 20 bis 30 Prozent der rund 6.000 an der Spree niedergelassenen Ärzte stecken nach Angaben von Standesvertretern in ökonomischen Schwierigkeiten, manch einer werde demnächst seine Praxis schließen müssen. Abgeschreckt zeigt sich nicht zuletzt der ärztliche Nachwuchs: „Bis zu fünfmal müssen wir mittlerweile freie Praxissitze ausschreiben“, berichtet Rita Kielhahn vom Bund der Praktischen Ärzte in Berlin.

Wesentliche Ursache für die drohenden Praxispleiten ist nach Angaben von Klaus-Joachim Schilling, Vorsitzender der Hausärztevereinigung Berlin, die ungleiche Verteilung der Honorare. Während etwa 200 Ärzte über eine Million pro Jahr abrechneten, bleibe für den Rest im Schnitt ein Jahreshonorar von wenig mehr als 200.000 Mark, dem nach Abzug aller Kosten ein Einkommen von 40.000 bis 70.000 Mark vor Steuern entspreche. Wegen der hohen Kreditraten zur Abzahlung der Praxisausstattung bleibe vor allem für neu niedergelassene Ärzte kaum etwas übrig. „Manche entlassen ihre Frau, die bei ihnen Arzthelferin war, damit die Familie von dem Arbeitslosengeld leben kann“, berichtet Schilling.

Die Verantwortung für die Misere sucht er wie viele andere Ärzte bei den Kassenärztlichen Vereinigungen (KV), denen im weitgehend planwirtschaftlich organisierten Honorarsystem der Kassenärzte die Rolle der zentralen Verteilungsinstanz zufällt. „Die KV verwaltet nur noch die Anpassung an die Rahmenbedingungen“, so Schilling.

Jene „Rahmenbedingungen“ werden indes von einem Anstieg der Ausgaben im Gesundheitswesen bestimmt, der längst den Rahmen alles Vorstellbaren gesprengt hat. An die 500 Milliarden Mark wurden 1996 in Deutschland für die Gesundheit ausgegeben, mehr als der gesamte von Theo Waigel mühsam zusammengeschusterte Bundeshaushalt. Gut die Hälfte dieser Summe müssen die gesetzlichen Krankenkassen aufbringen, deren Ausgaben in den letzten fünf Jahren um satte 35 Prozent stiegen. Die Gesundheitsreform verordnete daher den Kassenärzten, immerhin der zweitgrößte Posten auf der Rechnung der Versicherer nach den Krankenhäusern, einen sogenannten „Honorardeckel“. Seit 1993 erhalten die Kassenärztlichen Vereinigungen jährlich von den Krankenkassen einen festgelegten Betrag – 1996 zuletzt 39 Milliarden Mark –, den sie nach einem zwischenzeitlich mehrfach geänderten, hochkomplizierten Punktesystem unter den Ärzten verteilen sollen. Das Ergebnis stellt keinen zufrieden: zu „Punktesammlern“ würden die Kollegen, klagte unlängst Ärztekammerpräsident Ellis Huber, eine wirklich korrekte Abrechnung sei im Gestrüpp der sich ständig verändernden Honorarregeln faktisch nicht mehr möglich. Auch die gescholtene Kassenärztliche Vereinigung ist mit dem System alles andere als glücklich.

Doch auch eine Reform der Reform wird kaum etwas daran ändern, daß eine kleine Anzahl gut eingeführter, günstig gelegener und technisch aufwendig ausgestatteter Praxen weiterhin gute Gewinne abwirft, die insgesamt für alle niedergelassenen Ärzte verfügbare Honorarsumme jedoch zu gering ist – oder aber deren Anzahl zu hoch. Während 1965 noch 725 Patienten auf einen Arzt kamen, war die sogenannte „Betreuungsrelation“ (Einwohner pro berufstätiger Arzt) 1995 bereits unter 300 gesunken. „Wenn wir die Kurve fortschreiben, sind wir im Jahre 2050 bei einer Betreuungsrelation von 1:1 – jedem Bürger sein persönlicher Arzt“, spottet Bernd Köppl, gesundheitspolitischer Sprecher der Berliner Bündnisgrünen. Den Ausweg aus der Misere sieht er in einer grundsätzlichen Umorientierung von der technisierten hin zur „sprechenden“ Medizin, die jedoch nur schrittweise geschehen könne.

Am anderen Ende der Einkommensskala scheffeln unterdes die Chefärzte der Städtischen und der Universitätskliniken weiter fette Honorare von Privatpatienten und Kassenpatienten mit Krankenhaus-Zusatzversicherung. Gute 60 Millionen erwirtschafteten die 162 Chefärzte der Berliner Unikliniken 1996 zusätzlich zu ihren Bruttogehältern von jährlich rund 130.000 DM, nur knapp über 40 Prozent davon flossen als Nutzungsentschädigung für das medizinische Gerät zurück in den Landeshaushalt – deutlich zuwenig, meint Bernd Köppl, „der Senat verschenkt Millionen an die Chefärzte“. Rüdiger Mehltau