: Gummibärchen zum Kennenlernen
Nach Antragskür und Visite beim Medizinischen Dienst zur Regeneration nach Spiekeroog. Über Schrecken und Wohltaten einer Mutter-Kind-Kur ■ Von Birgit-Sara Fabian
Das hätte so ein schöner Morgen werden können! Statt dessen ist der ganze Vormittag mit Terminen vollgepflastert: Frauenrunde, kurärztliche Untersuchung, Führung durchs Haus. Nelly starrt voller Entrüstung auf den Zettel mit der Aufschrift „Die ersten Tage im Schloßmacherheim“. Ihr Herz schreit nach Rebellion. Was wäre, wenn sie jetzt gleich den Aufstand probt? Einfach rausrennt, die Düne hinaufjagt, die Düne hinunter und 800 Meter den Strand entlang bis zum Meer. Das Meer riechen, tief ausatmen und alles loslassen: Darum ist sie zur Kur nach Spiekeroog gekommen.
Statt dessen Vorstellungsrunde: 36 Mütter sagen ihre Namen, nennen ihre 48 mitgebrachten Kinder und kommen von überallher. Die meisten Frauen sind neugierig und aufgeregt. Nelly guckt aus dem Fenster des Gymnastikraums. Jetzt werden Gruppen gebildet. Jeder bekommt ein Gummibärchen in die Hand gedrückt. Nelly ißt ihres auf und weiß darum nicht, zu welcher Gruppe sie gehört. Zum Kennenlernen sollen die Frauen Gedichte schreiben, in denen die Wörter „Ostfriese“, „Kartoffel und „Glühbirne“ auftauchen. Nelly sucht Rat auf dem Boden ihrer Kaffeetasse und schreibt das Gedicht. Es gibt noch mehr Aufgaben zum fröhlichen Kennenlernen, aber die kriegt Nelly nicht mehr mit. Vorsichtig steht sie auf und schlendert durch den Raum. Öffnet die Tür, und dann hält sie nichts mehr...
Frau Koslowski blickt streng über den Hof, um den sich die sechs Häuser des Kurzentrums wie um einen Dorfplatz gruppieren. Frau Koslowski ist Sozialarbeiterin mit dem Titel einer Kurberaterin und leitet die Gesprächsrunde zum Thema „Und wo bleibe ICH?“ Ihr finsterer Blick gilt nicht etwa den tobenden Kindern und den Müttern, die sich auf den Bänken im Hof herumfläzen, sondern ist Ausdruck ihres inneren Monologs mit Herrn Seehofer. Der Gesundheitsminister hat sich an den Müttergenesungskuren vergriffen, und das nimmt sie ihm persönlich übel.
Seit Januar 1997 dauern Mütter- und Mutter-Kind-Kuren in der Regel nur noch drei Wochen. Bislang waren es vier Wochen, und schon dieser Zeitraum war für manche Krankheitsbilder und vor allem für die Kinder viel zu kurz. Es ist nicht einfach nur die Kurdauer, die sich geändert hat – das ganze Konzept stimme vorne und hinten nicht mehr, weiß Frau Koslowski. Viele medizinische und therapeutische Maßnahmen greifen nicht im Ruck-zuck-Verfahren.
Auf die Kostenträger der Mütterkuren ist Frau Koslowski genauso sauer. Einige Versicherungen haben aus der Pflicht des Kurantrags eine anspruchsvolle Antragskür gemacht, bei der die kurwillige Mutter, vom Hausarzt betreut, über einen olympiareifen Hindernisparcours geschickt wird. Die erste Hürde ist dabei die Parole einiger Versicherungsträger, daß alle Kuranträge zunächst einmal abzulehnen sind. Nur wer Widerspruch einlegt, kommt eine Runde weiter bis zur Vorstellung beim Medizinischen Dienst. Wer hier nicht aufpaßt, für den kann schon allein der aufrechte Gang das Aus bedeuten. „Solange sie noch nicht zur Tür hereinkriechen, sind sie doch gar nicht ernsthaft krank“, zitiert eine empörte Kursteilnehmerin ihren Gutachter vom Medizinischen Dienst. In diesem Fall helfe es nicht, klein beizugeben, sondern mindestens die verbale Großattacke zu starten, empfiehlt sie deshalb.
Aber nicht nur die kurbedürfte Mutter, auch die attestierenden Ärzte werden stärker gefordert. Reichte den Krankenkassen früher oftmals die lapidare Diagnose „Erschöpfungszustand“, muß es heute eine erlesene Komposition aus Rhetorik und Krankheitsbildern sein, um vor dem Medizinischen Dienst zu bestehen. Wer nach einer erfolgreichen Antragsstaffel dann allerdings sein Kurdiplom in Händen hält, der hat zur Zeit die ganze Palette der Mütterkurhäuser zur freien Auswahl. Lange Wartezeiten auf einen Platz im Kurzentrum gehören der Vergangenheit an, selbst in den Schulferien findet sich oft noch ein freies Bett. Etwa jeder zweite Kurantrag wird zur Zeit genehmigt und das, obwohl in diesem Jahr nur halb so viele Anträge gestellt wurden wie im vergangenen Jahr. So bleiben viele der Kurbetten zwar frisch bezogen, aber unbenutzt: Die durchschnittliche Belegung von Januar bis Juli 1997 schwankt zwischen viertelvoll und knapp ausgebucht, drei von 100 Mütterkurhäusern sind in diesem Jahr schon auf der Strecke geblieben und mußten geschlossen werden.
Die Vorhänge der Gymnastikhalle sind zugezogen, aus dem Lautsprecher sprudeln südamerikanische Rhythmen. Cosa beißt sich nervös auf die Lippen und tanzt eine selbsterdachte Schrittkombination vor. Jetzt kommt das Schwerste: Sie öffnet den Mund und ruft im Takt der Musik laut „Cosa!“ in den Raum. Ein vielstimmiges „Cosa!“ schallt als Antwort zu ihr zurück, die zehn anderen Tänzerinnen des abendlichen Kreativangebotes bemühen sich nach Kräften, Cosas Schrittfolge nachzutanzen. Jede ist einmal an der Reihe, sich tänzerisch vorzustellen, fast jeder ist es peinlich, im Scheinwerferlicht zu stehen und laut den eigenen Namen herauszuschleudern.
Selbstbewußte Frauen bilden die Ausnahme unter den Kursteilnehmerinnen, bestätigt Heimchef Bernd Fiegenheim, obwohl viele starke Frauen dabei sind.
Frauen wie Bernadette, die im Schichtdienst in einer Süßwarenfabrik arbeitet und mit ihrem Einkommen drei Kinder alleine großzieht. Ihr Mann ist abgehauen und zahlt keinen Pfennig Unterhalt. Auf Spiekeroog ist Bernadette nie dabei, wenn abends ein Zug durch die Gemeinde geplant wird. Bernadette bleibt im Schloßmacherheim und paßt auf die Kinder fremder Mütter auf. Daß sie auch gern einmal ausgehen würde, gesteht sie nicht einmal sich selber ein. Wer so wie sie aufs Verzichten trainiert ist, der stellt sich in drei Wochen Kur nicht um. „Wir können die Mütter, die zu uns kommen, nicht umkrempeln“, meint Bernd Fiegenheim. „Aber wir möchten allen Kurteilnehmerinnen ermöglichen, Perspektiven zu entdecken, die weit über die Kur hinausreichen.“
„Am Strand ist es so wangleilig!“ Ungnädig trottet Salome hinter ihrer Mutter her. „Ich gehe nicht mit zum Strand!“ ruft sie schließlich entschlossen und wirft sich neben dem Strandweg in die Dünen. Birgit blickt ratlos auf ihre Tochter herunter und seufzt. Jeden Nachmittag dasselbe Theater, jede gemeinsame Unternehmung mit Salome endet irgendwann in Geschrei und Gezeter. Birgit kämpft ihre aufkommende Wut nieder und bietet ein Eis als Verhandlungsbasis an. Salome lehnt ab und schreit. Am Himmel segelt ein einziges pfannkuchenkleines Wölkchen, und die Sonne scheint. Morgens werden die Kinder der kurenden Mütter im Kindertreff betreut, den Nachmittag verbringen Mütter und Kinder gemeinsam. Sind die mitgebrachten Kinder klein, endet so ein Nachmittag statt in muschelsammelnder Idylle oft in Wut und Tränen. Viele drei- bis vierjährige Kinder sind mit der Eingewöhnung in den straff organisierten Kurablauf überfordert. Und die Mütter sind hin- und hergerissen zwischen ihren eigenen Bedürfnissen und denen ihrer Kinder. „Nach zwei Wochen Kur spielen sich Mütter und Kinder meist langsam aufeinander ein“, resümiert Frau Koslowski. Bei der verkürzten Kurdauer bleibt dann nicht mehr viel Zeit für den entspannteren Umgang miteinander.
Hanna steht in der Teeküche mit dem Lockenstab in der Hand, zwei Haarklemmen im Mund. „Ich fühl' mich einfach super“, bringt sie undeutlich heraus. „Mensch, wenn ich bedenke, daß ich die letzten 15 Jahre Silvester zu Hause gesessen habe, allein mit meinen Söhnen! Dieses Jahr wollen Katharina und ich uns mit den Kindern auf Spiekeroog treffen und ordentlich feiern, nicht Katharina?“
Beim Müttergenesungswerk gibt es eine Liste mit Kurhäusern und Adressen der Wohlfahrtsverbände, an die man sich wegen des Kurantrags wenden kann: Elly-Heuss- Knapp-Stiftung, Deutsches Müttergenesungswerk, Postfach 1260, 90544 Stein/Mittelfranken, Tel.: (0911) 967110.
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