: Hübner steht auf Akkordpflege
Seit einem Jahr wird der Pflegeaufwand für Behinderte in Abrechnungseinheiten zerlegt. Gesundheitsverwaltung will das Modell nach einer Studie ausdehnen ■ Von Julia Naumann
Kleine Morgentoilette, Begleitung außer Haus, Hilfe bei Haarwäschen, persönliches Gespräch – seit knapp einem Jahr werden PflegerInnen von Behinderten und alten Menschen nicht mehr nach Stundenlöhnen, sondern nach standardisierten Leistungskomplexen, sogenannten „Pflegemodulen“, entlohnt. Heute beraten die Fachleute im Gesundheitsausschuß des Abgeordnetenhauses, ob Pflegekräfte auch in Zukunft nach dem umstrittenen Modulsystem bezahlt werden sollen.
Vor einem Jahr wurde mit der Pflegeversicherung das komplizierte Abrechnungssystem in Berlin vorläufig eingeführt. Die Gesundheitsverwaltung gab ein Gutachten in Auftrag, im Rahmen dessen in vier Bezirken – Charlottenburg, Köpenick, Neukölln und Weißensee – die Auswirkungen untersucht werden sollten. 466 Menschen wurden mit Hilfe von Fragebögen befragt, über zwei Drittel von ihnen Frauen über 75 Jahre. Die Fachhochschule Potsdam führte weitere 30 Interviews mit Betroffenen. Die Gesundheitsverwaltung kommt in ihrem Gutachten, das der taz vorliegt, zu dem Fazit, daß die Ergebnisse der Untersuchung „keine wesentlichen Anhaltspunkte enthalten, das Modulsystem wieder aufzugeben“. Allerdings müsse es in „einigen Bereichen angepaßt und verändert werden“. Diese werden jedoch nicht genannt.
Die Fachhochschule Potsdam kommt in ihrer Studie dagegen zu einem differenzierteren Ergebnis: Die zeitliche und persönliche Kontinuität, die für das Vertrauensverhältnis zwischen Pflegekraft und Pflegebedürftigen wesentlich sei, könne besser mit einem Zeitmodell als mit einem reinen Modulsystem realisiert werden. Knapp die Hälfte der Befragten empfand das neue System als nachteilig, weil der Pflegedienst weniger Zeit habe. 13 der Befragten gaben an, es habe keine Auswirkungen.
Vertreter von Behindertenorganisationen hatten in der Vergangenheit immer wieder gegen den neuen Abrechnungsmodus protestiert: Das Abrechnungssystem zerstückele Menschen in „Arbeitsgänge“, durch die Abrechnungsform würden sie „normiert und standardisiert“, so die Vorwürfe. Auch Gespräche, bei der Stundenabrechnung selbstverständlich, müßten jetzt extra berechnet werden. So gibt es zum Beispiel Leistungskomplexe wie Darm-Blasen-Entleerung, Einkaufen, aber auch psychosoziale Betreuung.
Die Gesundheitsverwaltung muß spätestens Anfang Januar entscheiden, nach welchem System künftig abgerechnet wird. Dann wird mit den Pflegekassen neu verhandelt. Möglich wäre durchaus eine Kompromißlösung, wie sie in Hessen praktiziert wird: Dort kann nach beiden Leistungssystemen abgerechnet werden.
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