piwik no script img

Der Unirechner hilft beim Streiken

■ Die Website als Schnittstelle zum realen Protest auf der Straße: Die großen Demonstrationen gegen die Finanzmisere der deutschen Hochschulen sind im Internet vorbereitet worden

Fünf Wochen nach dem Ausbruch der ersten Streiks an der Gießener Justus-Liebig-Universität hatten die elektronischen Medien ihr Großereignis in der analogen Welt gefunden. Am 27. November waren rund 40.000 Studierende in Bonn auf der Straße und verliehen ihrem Protest gegen die Finanzmisere der deutschen Hochschulen realen Nachdruck. Als Topmeldung beherrschte der fröhliche Umzug sämtliche Nachrichtensendungen der Fernsehsender, ein Hauptanliegen war erreicht: die Sensibilisierung der Öffentlichkeit.

Doch das Medienecho wäre kaum so laut geworden, wären die Studierenden von Hamburg bis München den etablierten Redaktionen nicht ein paar Schritte voraus. Einen Grundstein für ihren Erfolg legten sie im Internet.

Mit auffälliger Professionalität bereichern seit Streikbeginn zahlreiche Online-Präsentationen das World Wide Web. Die Streik-Seiten, nicht selten von netzbegeisterten Einzeltätern ins Leben gerufen, bilden das aktuelle Streikgeschehen ab und informieren über wichtige Aktionen im örtlichen Streikbetrieb.

Manuel Heinrich, Betreuer der Gießener Asta-Streik-Seiten, war vom Netz-Feedback überwältigt: „Es ist unglaublich und war im vorhinein unvorstellbar. Eine Seiten- Statistik des Hochschulrechenzentrums ergab zu Spitzenstreikzeiten an einem Tag über 4.000 Aufrufe. Am Abend vor der Bonner Demo kam durchschnittlich alle 2 Minuten eine E-Mail mit einer neuen streikenden Uni an, es war atemberaubend, so dabeizusein.“

Mit lokalen oder regionalen Veranstaltungshinweisen tragen die Streik-Pages einen gewichtigen Teil zur dauerhaften Etablierung des Protestes bei und leisten gute Dienste bei der Koordination studentischer Aktivitäten über den eigenen Hochschulort hinaus. „In Marburg gibt es die bundesweite Streik-Mailing-Liste, auf der alles angekündigt und verteilt wird, so daß man auch sehr schnell an die Ergebnisse anderer Unis in elektronischer Form herankommt“, sagt Manuel Heinrich. „Zur Zeit versucht die Uni Mainz für jedes Bundesland einen Mail-Verteiler aufzubauen, auf dem dann sowohl Forderungen als auch Termine und Aktionen abgestimmt werden können. Inzwischen gibt es sogar einen eigenen Channel im Internet, Relay Chat (IRC), der auch fleißig benutzt wird.“

Feldversuch für die Medienkompetenz

Die Gießener Streik-Site (www .stud.uni-giessen.de/~s567/ protest/) hat nach fünf Wochen Arbeit den Umfang eines kleinen Online-Magazins erreicht und dient als Schnittstelle für ein direktes Einschalten in die Protest-Phalanx. Listen von E-Mail-Adressen der zuständigen Landes- und Bundespolitiker sind ergänzt durch vorgefertigte Beschwerdebriefe, auch die klassische Internet-Protestform, die Sammel-Mail mit möglichst vielen Unterschriften, kursiert längst in den Datennetzen.

Umfangreiche Datensammlungen schreiben online ihr eigenes Stück Streikgeschichte. Die Streik- Seiten sammeln Zeitungsberichte und Bildmaterial von den örtlichen Protestaktionen, zuweilen schaffen Audio- und Videodateien ein multimediales Ambiente. Dokumentiert werden aber auch drögere Hintergrundmaterialien wie etwa die Berliner Rede von Roman Herzog oder der Text des neuen Hochschulrahmengesetzes.

Die geringeren Produktionskosten der Online-Berichterstattung führten sogar dazu, traditionelle Kommunikationsformen zu ersetzen – an der Marburger Uni wurde die Printversion der „Streikzeitung“ nach wenigen Tagen zugunsten der Online-Nachrichten eingestellt. Eine besonders wichtige Rolle spielt die Verbindung der Protest-Seiten untereinander, die „Streik-Links“ fügen sich zu einem bundesweiten Netz.

Damit ist die studentische Online-Kampagne ein sich selbst verstärkender Prozeß geworden. Die Identifikation über Aktionen online und offline führt zu einer stetigen Ausweitung des Protest-Netzwerks, die offene und dezentrale Netzstruktur erleichtert nationale wie internationale Kontakte – und nicht zuletzt führt die fortwährende Medienberichterstattung zu einem Anwachsen der Streik-Archive.

Doch woher kommen die zur Produktion derartiger Medienangebote notwendigen Qualifikationen? Ganz sicher sind sie kein Verdienst der Lehrpläne, in die das Internet noch nicht regelmäßig eingebunden ist. Vielmehr eignen sich die Studierenden ihre digitale Medienkompetenz in Eigenregie an. Die Online-Kampagne ist ein erstes Ergebnis ungezwungenen E- Mail-Austauschs, ausgiebiger Nutzung des IRC und privater Experimente mit WWW-Seiten.

Damit zogen Studierende bislang aber nicht selten den Unmut der Professorenschaft auf sich – statt die Bibliotheksrechner für Literaturrecherchen zu nutzen, blockierten sie in deren Augen nur die PC-Arbeitsplätze. Die Vielzahl studentischer Homepages stand im Verdacht, teure Rechnerkapazitäten über Gebühr in Anspruch zu nehmen und nur dem Privatvergnügen zu dienen: als digitales Fotoalbum, virtueller Hobbyraum oder Kontaktbörse – und keineswegs zu Forschungszwecken.

Doch genau die Forschung wird den Studierenden nicht eben erleichtert: Geld für Lehraufträge auf diesem Sektor fehlt natürlich, und das etablierte akademische Personal klickt kaum je so engagiert zur Sache wie die Studentenschaft. Fachliche Kompetenzen sind zwar vorhanden, doch strukturelle Mängel verhindern, daß innovative Energien in den ordentlichen Lehrbetrieb einfließen. Für das Zeitalter von Bits und Bytes scheinen zumindest große Teile der Studierenden besser gerüstet, als ihre Ausbildung erwarten lassen könnte.

Insofern betreiben die Online- Streikkräfte Hilfe zur Selbsthilfe im besten Wortsinne. Sie holen die Versäumnisse der Lehrpläne nach und sammeln Qualifikationen für die herannahende Informationsgesellschaft. In einem großangelegten Feldversuch verdienen sich einige Online-Redakteure der Zukunft ihre ersten Sporen und nehmen ganz nebenbei noch ein paar Lektionen in Staatsbürgerkunde mit. Im den Computernetzen selbst besetzen die Studierenden in bester Protestmanier prominente Plätze. Unter der Adresse www.studentenproteste.org ist bereits eine erste übergreifende Streik-Seite zu erreichen, und aus Freiburg wird stolz der Antrag auf eine Top-Level-Domain „www.streik.de“ vermeldet.

Zwar wird die Internet-Aktivität rapide abnehmen, wenn der reale Lehrbetrieb erst wiederaufgenommen ist, doch hat sich in den Streikwochen die Vernetzung der Studierenden enorm verdichtet. Explosionsartig steigende Zugriffszahlen während der Streikphase zeigen die Popularität und Nützlichkeit der Online-Angebote. Da eine alternative Mediennutzung seit langem als wichtiger Bestandteil politischer Protestbewegungen gilt, ist anzunehmen, daß dieses Netzwerk der nächsten studentischen Protestwelle noch weit größere Dienste leisten könnte. Christoph Bieber

Chbieber@aol.com

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen