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Die Ostseeinsel Hiddensee im Winter: Am Strand tummeln sich weder nackte noch bekleidete Menschen. Auf Hiddensee herrscht dann Ruhe und Beschaulichkeit. Selbst zur Jahresendfeier knallt es kaum  ■ Von Carsten Otte

Im Winter, wenn das Fährwasser zwischen Stralsund und der Insel Hiddensee zugefroren ist, dann muß, wer das Eiland besuchen möchte, sich nach Schaprode, einem kleinen Fischerörtchen auf Rügen, begeben. Das ist ohne Auto nicht ganz so angenehm. Mit Hilfe der Deutschen Bundesbahn begibt man sich zunächst nach Bergen, der Inselhauptstadt Rügens; ein Bus soll die wenigen Touristen nach Schaprode karren, doch der kommt nur viermal am Tag. Der Busbahnhof in Bergen ist eines dieser umwerfenden Schmuckstücke realsozialistischer Baukunst, die seit Jahren bereits verfallen. Keine Kneipe zum Aufwärmen gibt es in der Nähe, nur ein verlorener Imbißstand ist zu finden, dessen Besitzer froh ist, in der Einöde ein paar Döner verkaufen zu können. Ein Segen, wenn der geheizte Bus in die karge Station einfährt. Immerhin: Der Kutter in Schaprode wartet schon.

Die Eisschollen knallen bei der Überfahrt nach Hiddensee gegen das Schiff, daß man kaum glauben kann, jemals dort anzukommen. Doch der Kapitän macht seine Sache gut, bislang ist jedenfalls noch kein Boot gesunken. Derart abenteuerlich ist die Anreise in den Wintermonaten, daß sogar die Sage von der Entstehung der Insel glaubhaft erscheint.

Vor langer Zeit lebten zwei Frauen in jener Gegend, eine reiche und eine arme. Es regnete und stürmte wild, als ein kleiner Mann die reiche Frau um ein Nachtlager bat. Das ging natürlich schief; die arme Frau nahm das Männlein schließlich auf. Als Dank verkündete der seltsame Gast der Frau am nächsten Morgen, die erste Arbeit des Tages werde ihr Glück bringen. Die Frau wollte an diesem Tag einen Rock für die Tochter nähen. Als sie nun den Stoff zu messen begann, bemerkte sie, daß das Tuch kein Ende nahm, und bald war ihr ganzes Haus voll Leinen. Die reiche Frau hörte von dem Wunder und lud den Gnom jetzt auch zu sich nach Hause. Der Herr sprach am Morgen wieder seine Zauberformel. Doch bevor die raffgierige Dame dazu kam, ihr Geld zu zählen, mußte sie den Lokus aufsuchen, um die Harnblase zu entleeren. So wurde das ganze Land überschwemmt, und Hiddensee war entstanden.

Während der Hiddenseer Eiszeit haben die meisten Hotels und Restaurants geschlossen, was lediglich bedeutet, daß nicht zu viele Menschen die Insel bevölkern. Eine Übernachtungsmöglichkeit ist immer zu finden. Manchmal ist es nur ein Gartenhaus, oft gibt es keine Dusche, doch die Einrichtung der Kammer überzeugt allemal: Geschirr und Besteck mit originellem DDR-Design, Maria und Josef hängen an der Wand, ein Fernseher ist meist vorhanden. Was braucht man auch Luxus, wenn es den von der Wirtin selbstgemachten Sanddornlikör gibt? Wenn der Nachbar den Urlaubern auf Wunsch sogar Brötchen backt, muß man sich nur noch darum kümmern, daß die Heizung im Feriendomizil funktioniert.

Die eigenartige Ostidylle wird vermutlich nicht mehr lange währen. Auch die Ossis sind auf den Komfort gekommen. Der Schriftzug auf dem alten FDGB-Haus in Vitte ist längst verblichen, die alten Parteikasernen wurden in moderne Hotelanlagen verwandelt. Zahlreiche neue Häuser werden derzeit hochgezogen, die Hiddensee Inselnachrichten berichten häufig und gerne über den verfluchten „Wildbau“.

Die Heimatpflege hat Vorteile: Noch durchstöbern Schafe, Rinder, Rehe, Hasen, Enten, Schwäne und anderes Viehzeug das Land. Auch im Winter. Die Hiddenseer selbst verkriechen sich zu dieser Jahreszeit hinterm Kamin. Die winterliche Ruhe ist einzigartig. Als Spaziergänger hat man nie den Eindruck, man nehme an einem Aufmarsch teil, auf den Fahrradwegen herrscht niemals Stau. Nach einer Radwanderung über die erstarrte Ostssee, bei der man zuweilen einen Fischer trifft, der sich ein Loch zum Angeln in die Eisdecke geschlagen hat, geht man am besten in ein Gasthaus, empfohlen sei etwa „Zum Enddorn“ in Grieben, dem kleinsten Ort auf der Insel. Größtenteils Fisch wird hier angeboten: Dorsch, Aal und Flunder - gebraten oder gedünstet – und natürlich eine deftige Fischsuppe. Die Hiddenseer Küche ist eher kräftiger Natur, was bei arktischen Temperaturen aber nicht fehl am Platze ist.

Wer Fisch aus welchen Gründen auch immer nicht mag, der kann auch Hirsch, Entenbrust oder ein köstliches Lammgericht wählen, frisch von den Jagdgründen der Insel auf den Tisch. Die Gaststätte ist typisch für Hiddensee: gemütlich im besten Sinne und ein wenig schräg, auch was das Verhältnis zu den neuen Zeiten anbelangt. Auf der Serviette steht geschrieben: „Für Ihren Besuch bedanken sich der Wirt und das Finanzamt. Nach der Bezahlung von Einkommens-, Vermögens-, Mehrwert-, Vergnügungs-, Erlaubnis-, Lohn-, Kirchen-, Gewerbe-, Gewerbeertrags-, Kapitalsteuer, dazu die Beiträge für Haftpflicht-, Unfall-, Lebens-, Feuer-, Invaliden-, Arbeitslosen-, Angestellten-, Einbruchsversicherung und die Gebühren für Heizung, Müll, Schornsteinfeger, Telefon, Gas, Energie, Wasser, Zeitung, Radio, Fernsehen und Miete bleibt uns nur das Geld für diese Werbung. Empfehlen Sie uns weiter.“

Gemeckert haben die Hiddenseer schon immer. Auch damals, im Oktober 1989, als man dem Chefpolitiker auf Rügen einen bösen Brief schrieb. Pastor Manfred Domrös, eine Institution auf Hiddensee, erzählt von dem Adressaten der Hiddensser Protestnote: „Herr Schüler, ehemals fleißiger Funktionär im SED-Staat, jetzt strebsam auf wirtschaftlichem Sektor innerhalb der neuen Ordnung tätig.“ Daß auf Hiddensee nicht nur über die Landwirtschaft diskutiert wird, hängt wahrscheinlich damit zusammen, daß die Insel seit langem Treffpunkt deutscher Literaten ist, von Gottfried Benn bis Christoph Hein. Gerhart Hauptmann kaufte sich sogar ein Haus und ließ sich auf Hiddensee beerdigen. Heute trifft man die Berliner Schauspielfraktion vom Maxim Gorki Theater oder der Volksbühne an.

Im Sommer wird dem interessierten Publikum aus den Werken von Hauptmann vorgelesen, sogar in der Nacht, was sich dann vornehm „Hiddenseer Lyrik-Nacht“ nennt; gäbe es einen Film über Hauptmann, man zeigte ihn mit Sicherheit im Zeltkino in Vitte, im Heimatmuseum darf man immerhin Bilder von der Hiddensee-Malerin Elisabeth Büchsel bestaunen, und im „Galerie-Café“ läßt man sich von einer Ausstellung über die Zeitschrift Das Magazin verwirren, dem in Ostdeutschland wohl bekanntesten Blättchen, das sich mit einer kuriosen Mischung zwischen Boulevard und FKK auf dem Markt behauptet.

Im Winter bekommt man von dem Trubel nichts mit. Das Zeltkino ist geschlossen, das Heimatmuseum ist geschlossen, im Galerie-Café ist auch nichts los. Am Strand tummeln sich weder nackte noch bekleidete Horden. Auf Hiddensee herrscht Ruhe. Selbst an Silvester hält sich der Knallfroschlärm in Grenzen, statt dessen läuft man auf den 72 Meter über dem Meeresspiegel liegenden Berg „Schluckswiek“, auf dem ein über hundert Jahre alter Leuchtturm steht, und schliddert hier Rotkäppchen-Sekt- trinkend ins neue Jahr. Die Werbebroschüren nennen Hiddensee nach dem Ausspruch des Schauspielers Alexander Ettenburg gerne „dat söten Länneken“, und was die Süße des Ländchens anbelangt, so hängt diese heutzutage offensichtlich von der Kälte ab. Stimmen Jahreszeit und Außentemperatur, trifft zu, was der Poet Nikolaus Niemaier empfiehlt: „Hett di de Welt watt dohn

Un dä die weh

Un will die nich verstohn,

Denn pack din Leed un Krohm

Un goh noh Hiddensee,

Do warst du licht un free.“

Auskünfte zum Schiffsfahrplan: Reederei Hiddensee, Fährverkehr ab Stralsund, Tel.: (03831) 268116, Fährverkehr ab Schaprode: (038300) 210

Auskünfte zum Busfahrplan: Rügener Personennahverkehrs GmbH, Tel.: (03838) 19449

Auskünfte zu Parkmöglichkeiten erteilt die Gemeindeverwaltung Schaprode, Tel.: (038309) 1395.

Buchtip:

Renate Seydel (Hrsg.): „Hiddensee. Ein Lesebuch“. Ullstein Verlag, Berlin 1996, 368 S., 14,90 DM

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