■ Die diesjährigen Brennpunkte des Weihnachtsverbrechens heißen Hamburg und Dortmund. Eine präzise Analyse plus Bilanz
: Heilige Halunken mit leeren Taschen

Es ist der hell strahlende Wahnsinn, der die Gemüter der freudig gestimmten Menschen gerade in der Adventszeit verschattet. Auch heuer bestätigt sich wieder ein Trend, der sein ganz spezielles Licht auf unsere Gesellschaft wirft: „Alle Jahre wieder“, klagte die BamS vom dritten Advent, „jagen Gangster in der Adventszeit die Kriminalitätsstatistiken in die Höhe, zu keiner Zeit des Jahres wird soviel geraubt wie jetzt.“

Warum? und wer? Wie und wo?

Tatorte

Bevorzugt sucht der Vorweihnachtsräuber Lokalitäten auf, an denen „was zu holen“ und wo auch sonst einiges gebacken ist. Zwei Exemplare unserer bewußt nur saisonal in Erscheinung tretenden Spezies (das „Zipelmützen-Tandem“) empfanden, als sie während des Einkaufsbummels leere linke Taschen verspürten, just in jenem Moment, da sie einen Hamburger MiniMal-Markt passierten, „das dringende Bedürfnis“, so Hannes F., „sich mal das Nötige zu besorgen“. Sie zogen ihre Pistolen aus den pistolengefüllten rechten Manteltaschen und füllten die linken mit 10.000 Mark. In Chemnitz und in Bichl (Bayern) wurden auf ähnlich schnörkellose Art jeweils fast 20.000 deutsche Mark entwendet, und zwar aus Discountern, Strumpfläden (dort zusätzlich Naturalien- und gewöhnlicher Warenverlust) und Postsparbüchern mittels gezückter Scheckkartenerpressung. In Lilienthal nahmen drei Sparkassenräuber beide Hände unter ihre sechs Arme und hinterließen zum Entsetzen der örtlichen Behörde fünf Fingerabdrücke, die sich nicht dechiffrieren ließen. Lilienthals Polizeisprecher Pedersen Bökland äußerte Betroffenheit „angesichts dieser Unverfrorenheit“.

Tatmotive

In Dortmund, einer Main City und regelrechten Hochburg des Tannenbaumklaus, werden Spielotheken ausgeräumt, Mülleimer entleert und Kneipen heimgesucht aus den oft niedrigsten Erwäggründen. Die nackte Lust am Verkleiden scheint vorzuherrschen (unser Tätertyp trägt gemeinhin einen langen roten Filzplattenumhang, einen auf dem Weihnachtsmarkt frisch gepflückten Zuckerwattebart und eine aus feinstem indonesischen Häkelgarn gestrickte Glockenmütze), genauso der Wille zur Spaßguerilla oder einfach die Idee, spontan auszutreten, sich „unter die Leute zu mischen und sie ordentlich aufzumischen“! (Anonymus)

Zu Nürnberg schoß ein räuberischer Geselle in einem mit Paletten voller Nikoläuse, Seesterne, Lehmkuchen und Wurstkadavern frisch belieferten Waldi-Markt aus allen Rumkugelkanonen. Die sozioökonomischen Ursachen solch widerwärtigen Vorgehens? Laut BamS und „Hans-Joachim Elstner (36), Sprecher der Polizei Hannover“: „Gerade im Augenblick sind sich viele Menschen ihrer finanziellen Notlage besonders bewußt.“ Das bestätigt auf Nachfrage Dr. Hammer: „Die Leute glauben immer, es seien echte Gabenbringer“, erklärt er. „Dabei sind sie arme Hunde, die vor den führerlos dahinrasenden Schlitten des Kapitalismus gespannt wurden und sich die höhnischen Sprüche von Knecht Ruprecht anhören müssen. Dann kommt es zur Verzweiflung, zu Ausbrüchen aus dem Schlittenhundverbund und zu Einbrüchen in die Paläste der wohlhabenden Kaufhausbesitzer. Ein ganz normaler Vorgang, eigentlich.“

Tarnungen

Als Tarnung dient die jeweilige Kleidung. Zu einer gelungenen Verkleidung tritt der akustisch- kommunikative Aspekt hinzu. Hinter vorgehaltener Hand und Waffe rufen die Halunken: „Geld her, alles!“, „Alles in den Sack da!“, „Bitte bis zum Rand füllen!“ und „Frohes Fest!“ Ein Zynismus, der in den Wochen der Besinnung doppelt schwer wiegt. Das Maß und der Sack sind voll, die Taschen der Opfer sind leer. Obwohl es traditionell umgekehrt sein müßte.

Taktiken

Die Taktiken der Bartbrutalos und Mantelmörder sind so einfach wie genial wie erfolgreich: erst freundliches Auftreten, unauffälliges Schlendern durch die Fußgängerzone, ein sachtes Kindertätscheln hier, eine Ohrfeige da, und wie aus der Pistole geschossen verwandeln sie sich, wenn der Moment günstig ist, plötzlich in furchteinflößende Mr. Hydes, ohne daß sie jemand als Mr. Hyde erkennen könnte, denn sie schauen noch immer wie aus dem Osterei gepellte Weihnachtsmullahs drein – mit Bratwurstzwiebelbart, Sauerkrauthaar und Keksdose unterm freundlich geschwunkenen linken Arm – und in der rechten Hand die durchgeladene Kalaschnikow. In Bitterfeld wurde der Invaliditätsrenter und seinerseits ehemalige Betriebsweihnachtsmann Rainer L. Opfer dieser so typischen, ja klassischen Chamäleon-Strategie: „Ich glaubte an einen Spaß, als er seine Rute rauszog. Als ich merkte, daß es eine Pistole war, drückte ich ihm 50 Mark und ein Lebkuchenherz in die Hand.“ So einfach kommen die meisten nicht davon. Sie sehen den Weihnachtsmann nie wieder. Jürgen Roth