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Der 16jährige Abdelkader wurde letzten Donnerstag unter mysteriösen Umständen in einem Pariser Vorort von der Polizei erschossen. Nicht nur in Dammarie-les-Lys liefern sich seither Jugendliche allabendlich Schlachten mit der Polizei Aus Dammarie-les-Lys Dorothea Hahn

Jeder Funke genügt

Auf den Betonplatten vor dem Eingang des Wohnblocks „Provence“ tritt ein Dutzend Halbwüchsiger von einem Turnschuh auf den anderen. Die Jüngsten sind noch nicht im Stimmbruch. Die Ältesten vielleicht gerade volljährig. Sie schweigen, haben die Hände in den Hosentaschen vergraben. Die Schultern sind hochgezogen. „Hau ab, Schlampe“ zischt es der Journalistin entgegen. „Bist du schwerhörig?“ kommt es gleich hinterher. Einer der Älteren aus der Gruppe rempelt sie seitlich an. „Wir haben die Schnauze voll von euch“, sagt er ihr laut ins Ohr. Dann geht er schlürfenden Schrittes auf einen anderen Hauseinang zu. Die anderen ziehen hinterher.

Eine knappe Woche nachdem der 16jährige Abdelkader von einem Polizisten erschossen wurde, herrscht in seinem Wohnort Dammarie-les-Lys in der südlichen Pariser Banlieue immer noch Ausnahmezustand. Die Polizeiversion, wonach der Schuß fiel, als der Jugendliche versuchte, in dem Golf GTI seiner Mutter eine Straßensperre zu durchbrechen, glaubt hier kaum jemand. Als viel wahrscheinlicher gilt die Erklärung des verletzten 19jährigen Beifahrers Djamel, der von seinem Krankenhausbett aus berichtet, daß die Polizei erst die Türe des Golf geöffnet und dann auf Abdelkader gezielt habe.

Allabendlich nach Einbruch der Dunkelheit liefern sich jetzt Abdelkaders Freunde Straßenschlachten mit der Polizei. Tagsüber schauen sie mit verschlossenen Mienen den Aufräumarbeiten von Feuerwehr und Hausmeistern zu. „Das ist ihre Form der Rache“, sagen die Erwachsenen in Dammarie-les-Lys mehr oder weniger verständnisvoll und stets aus sicherer Entfernung.

An diesem Montagmittag sind die ausgebrannten Autos der Vornacht schon abtransportiert. Die Stadtbibliothek Albert Schweitzer ist geschlossen. An dem verkohlten Eingang klebt der Rest einer Weihnachtstanne. An den Wohnblocks rundum sind jede Menge Rolladen heruntergelassen. An anderen Fenstern machen sich Glaser zu schaffen.

In der Vornacht hallten „Hört auf“-Schreie und das Geknalle von Molotowcocktails und Gummigeschossen durch Dammarie-les- Lys. Jetzt wischt sich eine Frau, die seit 25 Jahren im Block „Aquitaine“ wohnt, die Tränen aus den Augen. „Es war ein ruhiger, schöner Stadtteil“, sagt sie.

Die in den 60er Jahren auf der grünen Wiese entstandenen Wohnmaschinen, die heute über 10.000 Menschen beherbergen, sind kein städtisches Brachland. Sie haben ein Schwimmbad, eine Eisbahn, Fußballplätze, Kindergärten, Schulen und ein kleines Einkaufszentrum. Zwischen den erdfarben gestrichenen Mauern liegen kleine Grünflächen. Der Bahnhof Melun, wo die Vorortzüge aus dem 40 Kilometer entfernten Paris ankommen, ist 15 Minuten Fußweg oder ein paar Busstationen entfernt. Rund 600 solcher Schlafstädte gibt es in Frankreich.

Für die Spannungen, die vor ungefähr drei Jahren mit gelegentliche nächtlichen Auseinandersetzungen begonnen haben, gibt es in Dammarie-les-Lys fast so viele Schuldzuweisungen wie Einwohner. „Der Bürgermeister kümmert sich nicht um die Jugendlichen“, heißt es. Oder: „Die Massenentlassungen in den 70er Jahren haben ganze Familien kaputtgemacht.“ Einige führen an: „Die Jugendlichen haben keinen Platz in der Gesellschaft.“ Andere machen Polizisten verantwortlich: „Die schikanieren unsere Jugendlichen.“

Wo eingeborene Franzosen und Einwanderer einst friedlich zusammengelebt haben sollen, schimpfen jetzt die einen auf die anderen.

Eine 58jährige Hausfrau findet es „logisch“, daß „so unterschiedliche Rassen in Konflikt geraten“. Ihre nordafrikastämmige 35jährige Nachbarin hat „Angst“, nach Einbruch der Dunkelheit den Hund Gassi zu führen. Und eine junge Mutter will trotz der „netten Nachbarschaft“ wegziehen, weil sie sich „Sorgen um die Zukunft ihrer Kinder“ macht. Täglich tauchen an den Hausfassaden neue, in rot gesprühte Graffiti auf: „NLF“. Die wenigen Eingeweihten glauben zu wissen, daß sie „Nique la France“ – fick Frankreich – oder „Nique les Flics“ – fick die Bullen – bedeuten.

Von den Institutionen in Paris erwarten die Menschen in Dammarie-les-Lys wenig. Viele gehen nicht einmal wählen. Nicht nur Ausländer, sondern auch Franzosen, die von sich sagen, daß sie „zu faul für die Eintragung ins Wahlregister“ seien oder daß sie „keine Ahnung von Politik“ haben.

Seit auch die Arbeit knapper geworden ist, haben sich die Beziehungen zwischen der Schlafstadt und dem Rest Frankreichs weiter reduziert.

An diesem Mittag nach der Straßenschlacht, der mit dem ersten Tag der Weihnachtsferien zusammenfällt, stehen viele Bewohner von Dammarie-les-Lys in kleinen Gruppen zusammen. Säuberlich nach Alter, Geschlecht und Herkunftsland getrennt. Bei den jungen Mädchen vor dem Block „Bourgogne“ sagt eine, die im ersten Schuljahr mit Abdelkader in eine Klasse gegangen ist, „die Jungen kämpfen, die Mädchen bleiben zu Hause“. Eine andere erzählt, daß an dem Donnerstagmorgen nach Abdelkaders Tod „ganz viele Schüler geweint haben“.

Die Portugiesen vor der „Residence Lorraine“ beargwöhnen die Halbwüchsigen aus der Ferne. Auf eine Diskussion mit ihnen lassen sie sich nicht ein. „Dann schmeißen die den nächsten Molotowcocktail in meine Küche“, erklärt einer die Zurückhaltung. Die Gewaltbereitschaft erklären die portugiesischen Arbeiter mit „schlechter Erziehung“ und „Schwäche des Staates“. Ein paar Meter weiter tauschen sich ein paar junge Frauen über das nächtliche Angstweinen ihrer kleinen Kinder aus und diskutieren darüber, ob sie ihre Söhne, „wenn die erst mal 15, 16 sind“, zurückhalten können.

Die vor Jahrzehnten aus Nordafrika eingewanderten Rentner, die in einem großen Kreis vor dem Einkaufszentrum stehen, sind mindestens zwei Generationen von den Halbwüchsigen entfernt. Aber in der Sache haben sie viel Verständnis. Einer der Alten kommt gerade aus der Moschee, andere haben Baguettes in der Einkaufstasche. Der Erschossene heißt bei ihnen „le petit“ – der Kleine. Die Polizisten heißen „Bullen“. Die nächtlichen Festnahmen und die oft mehrfach täglichen Ausweiskontrollen bei den Jungen nennen sie „Provokation“. Als einer der Alten etwas über den „Haß“ der Jungen sagt, rempelt ihn ein anderer seitlich an.

Abdelkaders Tante Malika stößt zu dem Kreis. In einem hastigen, halb französischen, halb arabischen Redefluß lädt sie die Männer zu einem Schweigemarsch ein. Die kleine Frau, die in den vergangenen Tagen und Nächten der Mutter von Abdelkader beistand, hat tiefe Ringe unter den Augen. „Wir werden überall in Frankreich unterstützt“, sagt sie. Dann prägt sie den Männern ein, wie wichtig es sei, „daß Erwachsene kommen“, und daß ihrem Neffen nichts weiter nachzuweisen sei „als überhöhte Geschwindigkeit und führerscheinloses Fahren“. Die nicken. „Er ist unser aller Sohn“, sagt der 58jährige Mohammed.

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