: Nymph, oh, Mann!
In seiner Verfilmung des Klassikers von Vladimir Nabokov verkürzt Adrian Lyne „Lolita“ auf die tragische Liebesgeschichte eines Narren mittleren Alters ■ Von Brigitte Werneburg
Einem Massenpublikum die pikanteren und abseitigeren Spielarten der herkömmlichen Heterosexualität in Form unkomplizierter Unterhaltungsware zu servieren ist die Spezialität des britischen Erfolgsregisseurs Adrian Lyne. Nicht, daß seine Filme „91/2 Wochen“, „Eine verhängnisvolle Affäre“ und „Ein unmoralisches Angebot“ jemals zu unorthodoxen Ansichten in Sachen Sexercise hätten verführen wollen, im Gegenteil. Sie liefen immer auf normative Dressurakte in Sachen Erotik & Moral hinaus. Der unbeweglichen, griesgrämigen Tugendhaftigkeit eines Publikums, das doch so sehr auf die unmoralische Erregung hofft, drohte von seiner Seite noch nie Gefahr.
Nun also „Lolita, Licht meines Lebens, Feuer meiner Lenden. Meine Sünde, meine Seele. Lo- li-ta: die Zungenspitze macht drei Sprünge den Gaumen hinab und tippt bei Drei gegen die Zähne. Lo. Li. Ta.“ Mit der Erzählstimme des Nymphchenjägers Humbert Humbert (Jeremy Irons) beginnt der Film strikt wie der berühmte Roman von Vladimir Nabokov. Langsam lenkt Humbert seinen Wagen von der einen Straßenseite auf die andere und wieder zurück. Die wenigen entgegenkommenden Autos müssen ausweichen, geraten ins Schlingern. Nachdem Humbert den Dramatiker Clare Quilty ermordet hat, zu dem die von ihm begehrte 12jährige Lolita übergelaufen war, fällt ihm nämlich ein, daß er jetzt auch die Verkehrsregeln verletzen könnte. Schließlich ist der Schaden, das Unheil nun vollends angerichtet. Die Polizei – wie am Ende des Films zu sehen – ist auch schon hinter ihm her.
Die verwerfliche Liebesgeschichte
Das Bild überzeugt, im Film wie im Buch. Auch wenn Lyne – genauer: sein Drehbuchautor Stephen Schiff – die Haarklemme, die bei Nabokov im Handschuhfach liegt, aus ihrem Versteck nimmt und sie an Irons Zeigefinger zwickt, überzeugt die Großaufnahme. Zumal Irons – anders als Nabokovs Humbert – gar nicht gut gelaunt, sondern todtraurig ist. Auf sentimentale Weise zeigt sie sofort, worauf Lynes „Lolita“ hinaus will: auf die große, die tragische, die verwerfliche Liebesgeschichte eines Narren mittleren Alters, der auf den lächerlichen Namen Humbert Humbert hört. Doch die unselige Liebesgeschichte ist nur ein Aspekt der literarischen Vorlage, und ihr schwächster dazu.
Mit „Lolita“ schrieb der im amerikanischen Exil lebende Russe Vladimir Nabokov 1955 seinen ersten Roman in englischer Sprache, der sich tatsächlich wie eine „critical inquiry“ im klassisch angelsächsischem Sinne lesen läßt. Als Frage nach der Faszination eines erwachsenen Mannes für kleine Mädchen, seiner Abscheu vor den Frauen, nach dem Interesse, das kleine Mädchen für erwachsene Männer zeigen mögen, ihrem Gefallen an den gleichaltrigen Jungs und umgekehrt, also nach dem Alter als kritischer Masse, die die Begierde zündet – Fehlzündungen inbegriffen.
Und doch: Auf all die Fragen dieses häretischen Zusammentreffens von Begierde und Philosophie, das „keine Moral im Schlepptau“ (Nabokov) haben kann, gibt Humbert Humbert bei jedem Erwachen – Stichwort „Morgenpflicht“ – und jedem abendlichen Zubettgehen die eindeutige und brutale Anwort der Macht. Er kann es sich leisten, „sie hatte sonst ja auch niemanden, zu dem sie hätte gehen können“. Nein, Humbert Humbert ist niemals Lolitas Liebhaber, er ist immer nur ihr Machthaber. (So wie es wohl für die Mehrzahl der Ehemänner galt, in Zeiten, als die Frauen für Kinder gehalten und wie Kinder gehalten, kurz, künstlich infantilisiert wurden.)
Nun gibt es jenseits der literarischen Vorlage die aktuelle Kriminalgeschichte. In Belgien sind Mädchen im Alter von Lolita gekidnappt worden, um sie ihrer Vergewaltigung und der pornographischen Verfilmung ihrer Vergewaltigung zuzuführen. Sie verhungerten schließlich in Kellerverliesen.
Das Konto von Anstand & Moral
Aufgrund schlimmer Ermittlungsfehler ist der nach dem Hauptverdächtigen benannte Fall Dutroux bis heute nicht geklärt. Der belgische Justizminister Melchior Wathelet, der den verurteilten Kinderschänder vorzeitig aus dem Gefängnis entließ, wurde auf den lukrativen Posten eines Richters am Europäischen Gerichtshof in Luxemburg befördert. Dem Mann aber, der Marc Dutroux ausfindig machte, Untersuchungsrichter Jean-Marc Connerotte, wurde seine Unparteilichkeit abgesprochen, weil er an einem Abendessen teilnahm, zu dem zwei befreite Mädchen kamen, um ihrem Retter zu danken. Nichts spricht dafür, daß der Fall jemals geklärt wird, vieles aber dafür, so Dirk Schümer in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, daß sich ein mächtiger Ring von Kinderschändern und Kinderhändlern der Unterstützung hoher Polizei- und Justizkreise sicher ist.
Der Kriminalskandal, der weltweit Beachtung fand, führt beim Publikum zu Unverständnis und Mißtrauen gegenüber einem Kunstprojekt wie „Lolita“. Daß der Film in Amerika keinen Verleih findet, ist dennoch nicht ohne weiteres dem Konto von Anstand & Moral gutzuschreiben. Trotz eines amerikanischen Produzenten floß kein Cent aus Hollywood in diesen Film. Wären die 62 Millionen Dollar für Adrian Lynes Sex & Crime aus Amerika gekommen, und nicht von der französischen Produktionsfirma Pathé, wer weiß? Denn anstößig im Sinne des Child Pornography Prevention Act von 1996 ist Lynes Film nun wirklich nicht. Kein Zensor fände Anlaß zu einem einzigen Schnitt.
Die notwendige Pornographie
Letztlich ist Adrian Lynes Film feige, und deswegen macht er auch das Motiv einer unseligen Liebe stark. Mit vierzehn verfällt Humbert Humbert der gleichaltrigen Annabelle, die wenig später an Typhus stirbt. Die große unerfüllte Jugendliebe ließ ihn, so will er uns glauben machen, neurotisch am Typus haften. Lenorweich setzt die Kamera Humberts Vorgeschichte ins Bild. Und so schwülstig wie Penthouse pseudozüchtige Kunstfotografie vorführt, ist das Bild, wenn Humbert Lolita zum ersten Mal im sommerlichen Garten liegen sieht, vom Rasensprenger naßgespritzt. Nur wenige Bilder sind tatsächlich so blöde, und doch bricht bei Lyne immer wieder der gemeine Werbefilmer durch, bei dem die Softeistüten ins Unendliche wachsen und Insekten mit einem Zischen und Knall im Gaslicht verbrennen, als würden Bomben fallen.
Ansonsten halten sich Lyne und Schiff ziemlich strikt an die Vorlage. Der qualvolle Mord an Clare Quilty (Frank Langella), den man in das Kino nach Quentin Tarantino verlagern möchte, ist reiner Nabokov und zeigt, daß der den Trash liebte und sein Roman eine einzige irrwitzige und geniale Regieanweisung ist. Aber dann weichen Autor und Regisseur doch in signifikanter Weise von der Vorlage ab. Jetzt ist es Lolita (Dominique Swain), die den körperlichen Kontakt sucht, wenn Mutter (Melanie Griffith), Tochter und der neue Untermieter auf der Schaukel sitzen. Und nicht Humbert Humbert, und damit die Wahrheit, wie sie im Buche steht. Jetzt fehlt die nötige Pornographie – da im Film selbst das bekleidete sekundäre männliche Geschlechtsteil immer der Erektion verdächtig ist, die nun einmal unter diesen Begriff fällt.
Tatsächlich ist es einer der irritierendsten Momente in Lynes „Lolita“, daß sich Jeremy Irons des Risikos der sexuellen Erregung überhaupt nicht bewußt scheint, obwohl er – ganz wie bei Nabokov – ständig im dünnen Pyjama durch die Gegend schlurft. (Wo doch Humberts Sündenfall damit beginnt, daß er die Ahnungslosigkeit des Kindes, wie den leichten Stoff ausnutzt, um seine „maskierte Lust mit ihren arglosen Beinen in Einklang zu bringen“, um am Ende zu sagen: „Ich war stolz auf mich. Ich hatte mir die Süße eines Orgasmus erlistet, ohne die Moral einer Minderjährigen anzutasten.“)
Das mutwillige Mädchen, die Göre
Nichts dergleichen ist auch nur angedeutet im Film. Der Film schont Humbert, was Nabokov keineswegs tut – selbst wenn er ihn den Moralaposteln nicht einfach zum Fraß vorwirft. Lolita ist eine Göre und keine Nymphe, der Dominique Swain – die schauspielerisch an der Seite von Jeremy Irons bravourös besteht – mehr mutwilligen als anmutigen Charakter verleiht. Mit Zöpfen und Zahnspange verniedlicht und mit mäßigem Erfolg verjüngt, manipuliert und quält ihn ein Biest auf der langen Irrfahrt quer durch die Vereinigten Staaten, zu der das Paar nach dem Unfalltod der Mutter aufgebrochen ist.
Ein zwischenzeitlicher Schulbesuch entzieht sie seiner Kontrolle und läßt Humberts Verzweiflung und Eifersucht wachsen, zumal ihnen beim erneuten Aufbruch ein geheimnisvoller Chevrolet Convertible folgt. Von Motel zu Motel, das Lyne mit akribischer Akkuratesse den im Roman beschriebenen 50er-Jahre-Bungalows nachbauen ließ. Und schließlich findet Lolita doch jemanden, zu dem sie gehen kann, und entwischt. Als Humbert sie drei Jahre später verheiratet und hochschwanger wiederfindet, erfährt er, daß sie sich Clare Quilty angeschlossen hatte. Den Kinderfreund von belgischen Ausmaßen, den die Leidenschaft so wenig angeht, wie den professionellen Dealer die Sucht, trifft schließlich Humberts tödlicher (Selbst-)Haß.
Man könnte annehmen, daß es dieser Schluß des Romans ist, der Lynes Interesse für Vladimir Nabokovs „Lolita“ weckte. Ein bißchen Ehebruch ist okay, ein bißchen Pädophilie geht auch, schließlich ist der Mensch nicht so ungefährdet, wie man es gerne hätte. Aber am Ende muß alles seine Ordnung haben und die böse Ehezerstörerin und der böse Porno- Onkel werden geschlachtet.
Unterstellt man Adrian Lyne unbesorgt die schlechtesten kommerziellen Absichten, so ist seine Adaption von „Lolita“ doch kein restlos schlechter Film. Das ist zum einen Jeremy Irons gedankt, dessen herausragendes Spiel die unglückselige Liebesgeschichte glaubhaft macht. Das ist zum anderen das Verdienst des Drehbuchautors und Journalisten des New Yorker, Stephen Schiff, der die gemein guten Bilder und Dialoge, die Nabokovs Geschichte liefert, so etwa Quilty zu Humbert: „Donnerwetter, wo hast du die her? – Wie bitte? – Ich sagte: Mit dem Sommerwetter ist es diesmal nicht weit her“, gnadenlos nutzt. Und der mit Nabokovs sarkastischer Ironie Humberts Liebesgeschichte ein wenig die Schärfe wiedergibt, die das Interesse an ihr weiterhin rechtfertigt.
„Lolita“. Regie: Adrian Lyne, Drehbuch: Stephen Schiff, mit Jeremy Irons, Dominique Swain, Melanie Griffith, Frank Langella, F/USA 1997, 137 Min.
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