: Karlsruhe sagt nicht viel
■ Rund 98 Prozent aller Verfassungsbeschwerden werden vom Bundesverfassungsgericht abgelehnt - und die meisten Bürger erfahren nicht einmal den Grund. Dabei wird intensiv geprüft
Karlsruhe (taz) – „Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen.“ Mit dieser dürren Antwort müssen sich die meisten Menschen begnügen, die in Karlsruhe eine Verletzung ihrer Grundrechte reklamieren. Das Bundesverfassungsgericht lehnt nicht nur rund 98 Prozent aller Eingaben ab, meist erhalten die BürgerInnen nicht einmal eine Begründung für die Zurückweisung ihrer Beschwerden.
So ging es auch Eckart Janßen, einem Rechtsanwalt aus Hannover. Er hatte sich in eigener Sache an das höchste deutsche Gericht gewandt, nachdem es ihm nicht gelungen war, Honorare in Höhe von rund 10.000 Mark von einer Mandantin einzutreiben. Das Landgericht Hannover hatte seine Klage unter Hinweis auf „Widersprüchlichkeiten“ abgelehnt. Darüber war Anwalt Janßen wütend: „Dieses Urteil schreit zum Himmel. Die haben ganze Passagen meiner Klage einfach nicht gelesen.“
Der Advokat sah sein Grundrecht auf „rechtliches Gehör“ verletzt und erhob deshalb im März 1995 Verfassungsbeschwerde. Nach eineinhalb Jahren kam die Antwort aus Karlsruhe. Ein Nichtannahme-Beschluß ohne Begründung. Janßen war enttäuscht und ratlos. Hatte das Verfassungsgericht seinen Fall überhaupt geprüft? Oder wurde seine Eingabe nur als lästige Bagatelle angesehen? Hatte er formale Fehler gemacht, oder gab man ihm in der Sache unrecht? In dem Ablehnungsbeschluß konnte er nicht den Hauch einer Andeutung finden.
Tatsächlich war Janßens Klage in der Zwischenzeit intensiv geprüft worden. Der zuständige „Berichterstatter“ des Gerichts war Verfassungsrichter Jürgen Kühling. Nach einer ersten oberflächlichen Sichtung gab er die 15seitige Beschwerde des Anwalts an Jürgen Gneiting weiter, einen seiner drei wissenschaftlichen Mitarbeiter. Gneiting ist eigentlich Arbeitsrichter in Stuttgart, hatte sich aber für drei Jahre ans Verfassungsgericht abordnen lassen. In seinem Schrank blieb die Beschwerde erst einmal liegen, denn der Vorgänger hatte ihm riesige Stapel unerledigter Fälle überlassen.
Als Gneiting sich dann nach einem Dreivierteljahr die Beschwerde vornahm, fand er, daß an dem Fall durchaus etwas dran sein könnte. Deshalb forderte er vom Landgericht Hannover die Prozeßakten an. Nach einigen weiteren Wochen lagen diese vor, und Gneiting begann mit der eigentlichen Prüfung. Drei Tage lang durchdachte er die Verfassungsbeschwerde in alle Richtungen und schrieb ein 16seitiges Votum. So viel Zeit bekommt aber nicht jede Eingabe. „Wenn es um rechtliches Gehör geht, ist das meist besonders aufwendig, denn auch das vorhergehende Gerichtsverfahren muß dann genau nachvollzogen werden“, erklärt Gneiting. „Im Durchschnitt benötige ich nur einen Tag für ein Votum.“
Am Ende empfahl Gneiting, die Verfassungsbeschwerde abzulehnen (die Gründe hierfür unterliegen dem Beratungsgeheimnis). Sein Votum bekam zuerst der eigentlich „berichterstattende“ Richter Kühling zu lesen. Nachdem er knifflige Fragen anhand der Akten geprüft hatte, übernahm Kühling das Votum seines Mitarbeiters. Den Vorwurf, daß Entscheidungsvorschläge des wissenschaftlichen Personals häufig blind unterschrieben werden, kennt Kühling natürlich, er weist ihn aber empört zurück. Zwei Stunden habe er sich in der Sache „Janßen“ mit dem Vorschlag seines Mitarbeiters beschäftigt.
Nach der eigenen Prüfung gab Kühling die Akten an die beiden anderen RichterInnen seiner dreiköpfigen Kammer weiter. Da der Fall keine grundsätzliche Bedeutung hatte, mußte die Sache nicht in den achtköpfigen Senat. Seine KollegInnen Renate Jaeger und Udo Steiner prüften das Votum je eine Stunde lang und waren einverstanden. Eine gemeinsame Beratung in der Kammer hatte sich damit erübrigt. Sie findet nur statt, wenn sich die Richter nach mehreren Umläufen im Ergebnis immer noch nicht einig sind.
Warum aber wurde der investierte Aufwand nicht durch eine solide Begründung nach außen dokumentiert? „Das würde das Verfahren noch mehr verlängern“, erklärt Jürgen Kühling. „So genügt es, wenn wir uns über das Ergebnis einig sind. Wenn aber eine Begründung nach außen geht, müßten wir uns auch über diese im Detail verständigen.“ Immerhin wird jeder Satz, den das Verfassungsgericht veröffentlicht, sofort von AnwältInnen und RichterInnen auf seine Verwendbarkeit in anderen Verfahren abgeklopft.
Rechtsanwalt Janßen war dennoch höchst unzufrieden: „Sich auf vier oder fünf Sätze zur Begründung zu einigen, dürfte wohl nicht so schwer sein. Ich will doch wenigstens grob wissen, warum meine Beschwerde abgelehnt wurde.“ Christian Rath
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