Mahlsdorfer Befindlichkeiten

■ Vor einem Jahr hat sich Bäckermeister Christian Müller für die "Ossis" entschieden, und alle sind glücklich. Nun hat er ein nachdenkliches Lied über Deutschland geschrieben, und keiner will's hören

Es ist genau ein Jahr her, da war dem Mahlsdorfer Bäckermeister Christian Müller die Erkenntnis gekommen, die „Ossis“ seien besser als die „Wessis“. Eine richtige Erkenntnis, wie sich herausstellte.

Mitte vorigen Jahres hatte Bäckermeister Müller die Wende auch in seiner Backstube vollzogen. Eine neue Backstube ließ er bauen, zwei neue Heißluftöfen ließ er einsetzen, raus kamen neue Schrippen, „Wessi-Schrippen“, wie die Leute sagten, aufgeblasen und ohne Geschmack. Der Protest ließ nicht lange auf sich warten. Erst verkaufte Bäckermeister Müller 500 Schrippen weniger am Tag, dann 700, dann 1.000, zum Schluß blieben immer mehr „Wessis“ am Abend liegen, durchschnittlich 3.000. „Da kann man schon Angst kriegen“, sagte Bäckermeister Müller vor einem Jahr der taz und warf sogar die Existenzfrage auf. Die Kunden hatten schließlich gedroht: „Paß auf, wenn wir die alten Schrippen bei dir nicht mehr bekommen, können wir auch woanders hingehen!“

Die alten Schrippen, das waren die „Ossis“, die mit dem Steinbackofen-Aroma und mit der festen Krume und dem feuchten Inhalt, die nicht krümeln, wenn man sie aufschneidet, und die sich auch mal ein paar Tage länger halten. Seit Jahr und Tag gingen die „Ossis“ weg wie warme Semmeln – so lange, bis Bäckermeister Müller die Wende vollzogen und gelernt hatte, daß Schrippen auch ein Politikum sein können. „Ich denke, da spielte teilweise auch ein politischer Frust mit rein“, sagt Christian Müller heute. Seine Kunden sind eben vorwiegend Ostler, aus Mahlsdorf und Umgebung. Mittlerweile hat Bäckermeister Müller seinen alten Steinbackofen reaktiviert. 98 Prozent der Schrippenproduktion sind wieder „Ossis“, 6.000 verkauft er in der Woche, 10.000 am Wochenende. Die restlichen zwei Prozent sind „Wessi“- Schrippen, weil er auch das Forum- Hotel beliefert, und „die wollen durch ihr Publikum eben diese Schrippen“.

Anzunehmen, daß es diese kleine Geschichte mit den „Ossis“ war, die Bäckermeister Müller dazu bewogen hat, ein Lied zu schreiben: „Guten Morgen, Deutschland. Gute Nacht, heile Welt!“ Seine „Ossis“ waren schließlich mit einem Mal Indiz für ostdeutsche Befindlichkeiten geworden und hatten bundesweit für Schlagzeilen gesorgt. Acht Zeitungsreporter kamen nach Mahlsdorf, einer sogar aus Kanada. Der kanadische Zeitungsreporter recherchierte in Sachen „Deutschland nach der Wende“. Ein Münchner ARD-Team drehte in der Müllerschen Backstube für die Sendereihe „100 Jahre Deutschland“ und befragte Bäckermeister Müller zum Thema „Fortschritt ist nicht immer Fortschritt“.

Bäckermeister Müller, ein „an Politik interessierter Mensch“, hatte sich also Gedanken über die „Ossis“ hinaus gemacht. „In dem Lied wollen wir ausdrücken, was in Deutschland los ist. Es soll zum Nachdenken anregen, weil jeder heute doch nur noch Seins macht, nicht anecken will und nicht nach nebenan kuckt.“ Mit seinem Kompagnon Achim Schulze schrieb er den Text: „Seliges Erwachen aus frommen Träumen / im sozialen Himmelbett / fremdes Elend versäumen.“ Sie fanden eine Melodie. Und gingen zu Plattenfirmen. Die erteilten dem Duo „Bakerman's Friends“ eine Absage. „Wahrscheinlich, weil man sich mit dem Text nicht so beliebt macht.“

Christian Müller wartet nun auf Wende Nummer drei. Jens Rübsam