Unfaßbares Berlin

■ Die Metropole im kleinen Format: Zur 5. Auflage des "Architekturführers Berlin"

Ein Merkmal, durch das sich Berlin von anderen deutschen Städten unterscheidet, ist seine schiere Größe. Die ganze Stadt zu kennen, das dürfte selbst denen schwerfallen, die es aus professionellen Gründen besser wissen müßten, Taxifahrer zum Beispiel oder Politiker. Berlin ist einfach nicht zu fassen – was letztlich ja auch zu einem nicht unerheblichen Teil seinen Reiz ausmacht.

Andererseits ist es ein naheliegendes menschliches Bedürfnis, die Dinge im Geist so zu ordnen, daß man sich der Illusion hingeben kann, den Überblick zu behalten und auf dem laufenden zu bleiben. Behilflich sind dabei diverse Stadtführer, ein publizistisches Genre, das sich stetig wachsender Beliebtheit erfreut. Eines dieser Bücher, die Berlin auf Manteltaschenformat schrumpfen lassen und einem das Gefühl geben, das Wichtige vom Unwichtigen trennen zu können, ist der mittlerweile in der fünften Auflage vorliegende Architekturführer des Berliner Reimer Verlags. Lange Zeit war Architektur etwas für Spezialisten, bestand die „interessierte Öffentlichkeit“ aus Angehörigen der einschlägigen Berufsgruppen sowie einer Handvoll begeisterter Amateure. In den letzten Jahren hat sich das Bild gewandelt, auch und – wegen des allgemeinen Buddelns und Bauens hierorts – gerade in Berlin. Es gehört inzwischen zum guten Ton, über das architektonische Geschehen in der werdenden Hauptstadt wenigstens in Ansätzen orientiert zu sein.

Genau 779 Gebäude und bauliche Ensembles sind – nach Bezirken aufgeteilt – im Architekturführer Berlin verzeichnet, gegenüber der vorangegangenen vierten Auflage wurden 69, meist noch im Entstehen begriffene Bauten der 90er Jahre neu aufgenommen. Zu jedem Haus gibt es mindestens eine Abbildung, häufig auch Zeichnungen von Grundrissen, Schnitte durch die Gebäude oder Darstellungen von Fassaden. Deutlich merkt man das Bemühen, mit Informationen auf engstem Raum sowohl Laien als auch Profis anzusprechen.

Daß die Verfasser der Beiträge, Doris Mollenschott, Martin Wörner, Karl Heinz Hüter und Paul Sigel (die Einführung in die Baugeschichte Berlins stammt von Wolfgang Schäche), dabei schnell an Grenzen stoßen, wer wollte sich ernstlich darüber wundern? Wer die Standardwerke zum Thema kennt (wie zum Beispiel die von zwei Architekten-Vereinigungen herausgegebene Reihe „Berlin und seine Bauten“), weiß, wieviel Raum eine den Leser einigermaßen befriedigende Abhandlung braucht. Doch ins Detail gehende, umfassende Schilderung ist auch gar nicht die Absicht der Herausgeber. Der unbestrittene Nutzen des Architekturführers Berlin liegt in seinem praktischen Gebrauch. Das rund 540 Seiten starke Buch kann man zur Not auch noch in der Jackentasche verstauen, um damit auf Tour zu gehen.

Abgesehen davon hat die Lektüre manchmal ausgesprochenen Unterhaltungswert. Was da auf einer Seite in Briefmarkengröße alles zusammenwächst: Das barocke Schloß Friedrichsfelde neben Tierparks Alfred-Brehm-Haus, Helmut Jahns schmales, gänzlich verglastes Bürohaus am Adenauerplatz findet sich plötzlich in unmittelbarer Nachbarschaft zu dem wuchtigen, neobarocken Gerichtsgebäude am Charlottenburger Witzlebenplatz wieder, das Pumpwerk am Halleschen Ufer überwindet den Kilometer Luftlinie zum Postgiroamt an der Möckernbrücke auf wenigen Zentimetern.

So schnurrt Berlin auf eine für alle Metropolengeschädigten gnädige Größe zusammen, besteht aus einzelnen, aus ihrer Umgebung herausgelösten Bauten, die durch die Isolierung um so mehr Gewicht und architekturhistorische Bedeutung erlangen. Ulrich Clewing

Architekturführer Berlin, fünfte, überarbeitete Auflage, Reimer Verlag Berlin, 540 S., 48 Mark