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Wenn du zur Unruhe geboren bist

Welche Rolle spielte die „rote SS“ in Italien? Was tat Jackie Kennedy auf dem Herrenklo? Warum ist der Erzengel Michael Schutzpatron der Psychoanalyse? Franz Jung erzählt Geschichte konsequent von ihren Rändern her. Nach 16 Jahren ist die Werkausgabe nun vollständig: Zuletzt erschienen seine gesammelten Briefe und Essays  ■ Von Michael Rohrwasser

Die beiden letzten Teilbände der Franz-Jung-Werkausgabe zählen 1.880 Seiten – zuwenig für Jung, zuviel für eine Rezension. Band 9/1, ediert von Sieglinde und Fritz Mierau, umfaßt 1.100 Seiten Briefe und ist der dritte Anlauf der Herausgeber. Der erste war ein Reclam-Bändchen von 1981, „Der tolle Nikolaus“, mit ein paar Briefen als Schmuggelware in der DDR, wo der Name Jung in Literaturgeschichten zur Fußnote reduziert war, weil der nach 1945 zu enge Kontakte zur „Trotzkistin“ Ruth Fischer gepflegt hatte. Das Bändchen erschien zu einer Zeit, als es Cläre Jung nicht gelang, in der DDR einen Verlag für ihre Erinnerungen zu finden, und das Märkische Museum, das von ihr Jungs Nachlaß erhalten hatte, den Nachlaß gegen alle Vereinbarungen ans Zentrale Parteiarchiv weitergab. Vieles ist seitdem verschollen.

Zweiter Anlauf war 1988 der Band 11 der Werkausgabe, der neben Briefen Jungs auch Briefe anderer, außerdem Manifest, Proklamationen und Prospekte versammelte – unter anderem die Ankündigung der Zeitschrift Sklave, die jetzt, sechzig Jahre später, am Prenzlauer Berg erscheint, wo die Szenekneipe „Torpedokäfer“ ihr Bier ausschenkt.

Nun schließlich, in Band 9/1, sind alle bislang verfügbaren 757 Briefe Jungs versammelt, samt knapper, wertvoller Anmerkungen und einer Reihe unbekannter Dokumente, die vor allem dort sich finden, wo der Brieffluß versiegt (1921–24, 1932–36). Etwa 25 Stunden konzentrierte Lesezeit erfordert dieser Band, und eine Warnung scheint sinnvoll: Die ersten 200 Seiten sind zwar spannend und liefern üppiges Material für Fährtensucher und Literaturhistoriker. Dann aber, 1945, ist der Briefeschreiber Jung erwacht, vielleicht in dem Maß, in dem er verschwinden will – in der Wüste, der Wildnis, im Kloster, sogar in der „Ostzone“. Und was hier folgt, ist aufregender, als man sich Brieflektüre im allgemeinen vorstellt.

Das Aufregende ist zunächst ein Zeitkommentar, der die gewohnten Vorzeichen mißachtet und die vertrauten politischen Legenden ignoriert. Jung ist in der Rolle eines wachen Beobachters, der boshaft- präzise Kommentare liefert; er analysiert Kapitalbewegungen und nationale Märkte für die eigenen Wirtschaftsdienste, für Ruth Fischer oder die FAZ: „buchhalten ist wichtiger als buchschreiben.“ Eine Fülle von Geschichten über Geheimdienste, über Nazis („ich kenne den Nazismus von einer Seite, wo er nur ein Aushängeschild gewesen ist“) und Mussolini- Bündnisse mit Stalin und immer wieder Exkurse in die Ketzergeschichte, Episoden von Kapital, Kommunismus und Komintern, aufgerollt an den Geschichten von Außenseitern und Hasardeuren, als könne Geschichte nur von ihren Rändern her erzählt und verstanden werden – je länger man liest, desto mehr leuchtet das ein. Wer wissen will, welche Rolle die „rote SS“ in Italien spielte, was Jackie Kennedy auf der Herrentoilette tat, warum der Erzengel Michael der Schutzpatron der Psychoanalyse ist oder wie der Masseur von Gerhart Hauptmann in die Räder der Geschichte geriet, kommt nicht um Jung herum.

Sichtbar wird in den Briefen ein Beieinander von Initiative und Apathie, eine Mischung von Versteckspiel und Offenheit. Weil Jung an alle Menschen glaubt, stürzt er so oft in Enttäuschungen und wilde Beschimpfungen; seine Empfindlichkeit ist verborgen hinter Gesten der Gleichgültigkeit. „Wie du weißt bin ich zwar ein geborener sucker, aber einer der zum mindesten höflich behandelt zu werden wünscht.“ Seine Briefe sind ein Kampf gegen die Isolation, aber jeder Brief bekräftigt das Distanzbedürfnis. „Bitte zerreiß den Brief“, schreibt er an Carola Weingarten und kurz zuvor: „hebe diese Korrespondenz gut ... auf.“

Die Stimmung eines „zu früh“ und eines „zu spät“ beherrscht nicht nur die Briefe. Liest man seine frühen Bücher wieder, die als literaturhistorische Verlegenheitslösung dem Expressionismus oder der sozialistischen Literatur zugerechnet werden, gewinnt das Bild eines literarischen Experimentators Kontur, für den die Psychoanalyse größere Bedeutung hatte als der Marxismus. Bis zum Ende, wenn er seinem letzten Verleger markttechnische Ratschläge erteilt, die ziemlich genau in die heutige Situation passen, hält sich das Bild eines Produzenten, der die Bedingungen der Produktion wenigstens so wichtig nimmt wie den Text. Die irritierten Absagebriefe von Zeitschriftenredaktionen und Verlegern künden davon. Zuletzt will Jung als Beitrag zum eben beginnenden II. Vatikanischen Konzil eine Pamphlet-Serie eröffnen mit dem Ketzer-Evangelium des Marcion.

Die Briefe spiegeln Jungs Kampf um seine Wiederkehr in die Literatur, die er 1931 mit dem Roman „Hausierer“ verlassen hat; erst 30 Jahre später erscheint sein nächstes und letztes Buch, die Autobiographie, der er anfangs den Titel „I don't come back. 33 Stufen abwärts“ geben wollte (Dantes Weg ins Inferno); es sollte, wie es in einer ersten Planung hieß, „alle 27 Bücher noch einmal in einem Buch“ versammeln: „Abrechnung – sehr individualistisch, sehr überheblich und ziemlich demütig.“

Im Band 9/2 finden sich seine letzten Radio-Essays, aber auch die beiden Schlüsseltexte für Jungs Denken: „Der Fall Gross“ und der Albigenser-Essay (jene beiden Texte, die der Verlag Brinkmann & Bose in den 80ern veröffentlicht hat und die dort längst vergriffen sind), Geschichten über Außenseiter und Menschen der Revolte (Fuhrmann, Gross, Boscovich, London, Pfemfert, Morenga), der Blick auf „Mystik und Magie im amerikanischen Bürgerkrieg“, schließlich die Wirtschaftsreportagen, literarische Vorarbeiten und einige autobiographische Bruchstücke. Im Gegensatz zum Briefband wird man hier bei der Lektüre eher eine Auswahl treffen, zumal bei einigen Texten der Entwurfcharakter offensichtlich ist. Auch hier ist die Wut spürbar, die er beim Schreiben des „Torpedokäfers“ empfand: „Sollte einer beim Lesen vor Ärger einen Herzschlag kriegen, das wäre mein größter Triumph.“

In den Briefen sind Jungs „Glaubenssätze“ oder „Lebensregeln“ die impliziten Bezugspunkte; hier, im letzten Band, werden sie expliziert. Der erste heißt, scheinbar beruhigend, nah am Energiehaltungsgesetz: „Es kann nichts verlorengehen“ – wohin denn? –, weder in geistiger noch in stofflicher Beziehung, weder im Allgemeinen der Gattung noch im Besonderen der Eigenheit. Das heißt auch, daß das, was Jung nicht zu Ende schreibt, irgendwo anders seine Fortsetzung finden wird.

Der zweite Satz ist düsterer und Wilhelm Reichs „Christusmord“ verwandt. Der Mensch ist ein Parasit, „eine Blattlaus am Baum des Lebens, vom technischen Fortschritt her gesehen eine Art Heuschrecke“. Nein, wir sind nicht in der besten aller Welten. Der Mensch ist zerrissen zwischen Gemeinschaftssehnsucht und -ekel. Dort, wo er sich und seinen Nächsten die Lebensangst nehmen will, weckt er den Haß der anderen Gesellschaft, der „zusammengewürfelten Gesellschaft der Gesetzgeber und Administratoren“. Jung macht das am Schicksal der Albigenser sinnfällig. Daß diese Gedanken dem Religiösen nah sind, wird von Jung unterstrichen: „Das, was der Einzelne braucht, um das Leben ertragen zu können, ist diese innere Erschütterung. Sie ist ausgedrückt in der Liebe, der alles Geschaffene umfassenden Liebe. Gott ist nah.“

Wo die Lebenserwartung sich nicht mit dem Gemeinschaftsgefühl verbindet, wo die Lebensangst siegt, das Leben „zugedeckt wird durch die tatsächlichen Erfahrungen einer Gegenwart, wird der Einzelne danach trachten, seinen Nachbarn wegzubeißen und umzubringen“. Die tödliche Drohung gilt denen, „die den Mut aufzeigen, die Entschlossenheit, das Leben dem Menschen erträglicher zu machen ... Nicht die Gesetze schützen den Menschen, sondern sein Anpassungsvermögen, seine Unterordnung und Unterwerfung vor Erkenntnis und dem Erlebnis seiner Existenz.“

Jungs Literatur steht im Schatten seines Lebens als Spartakist, Börsenjobber, Pirat und Canaris- Mann, gezeichnet von Widersprüchen und Abgründen, von Gehetztheit, Suche und Trostlosigkeit. „Er war einer der intelligentesten Menschen, die ich je getroffen habe, aber auch einer der unglücklichsten“, hat George Grosz über ihn geschrieben, den er an Rimbaud erinnerte. Als Jung in eine polizeiliche Hausdurchsuchung gerät, notiert er: „Die Armen wissen ja nicht, daß ich die Plastiks im Kopf habe und nicht im Koffer.“ Es ist nicht zu leugnen, daß der Blick auf Jungs Werk von diesem Leben nicht zu trennen ist, daß den Leser immer auch die lebenslange Suche Jungs bewegt, die am Ende religiöse Antworten sucht. „Was suchst du Ruhe, wenn du zur Unruhe geboren bist“, heißt das Wort Thomas von Kempens, das er schon in den Zwanzigern als Motto gewählt hat. Wohl uns weniger Gläubigen.

Vierzehn Bände und drei Ergänzungsbände sind in 16 Jahren erschienen – ohne öffentliche Unterstützungen, aber mit Leidenschaft und Bereitschaft zum Risiko, den Jungschen Tugenden.

Franz Jung, Werke in Einzelausgaben. Zuletzt erschienen: Band 9/1 „Briefe 1913–1963“. Hg. Sieglinde u. Fritz Mierau. 1.140 Seiten (1996) brosch. 138 DM, Ln. 158 DM

Band 9/2 „Abschied von der Zeit“. Hrsg. von Lutz Schulenburg. Hamburg: Edition Nautilus, 730 S. (1997) brosch. 68 DM, Ln. 78 DM

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