piwik no script img

35 Jahre ohne Schlägerei

St.Pauli, wie es nicht im TV-Film „Der König von St.Pauli“vorkommt – eine Richtigstellung und Liebeserklärung  ■ von Günter Zint

Aufgedonnert, exaltiert und hochgefährlich – so kommen der Stadtteil St.Pauli und seine BewohnerInnen in Dieter Wedels Sechsteiler „Der König von St.Pauli“auf SAT.1 daher. Eine schiefe Darstellung, fanden nicht nur viele St.Paulianer, die den ersten Teil am Montagabend im Fernsehen verfolgt haben, sondern auch Günter Zint, Fotograf auf St.Pauli. (Red.)

Wann immer ich auf Reisen erwähne, daß ich auf St.Pauli wohne, kommt die erstaunte Frage: „Kann man da wohnen?“Man kann! Und, wie ich meine, sehr gut sogar.

Ich bin 1962 nach einem STAR-CLUB-Besuch hier aufem Kiez „hängengeblieben“. Meine Frau ist hier geboren, und meine Kinder gehen hier zur Schule bzw. in den Kindergarten. Ich habe hier 35 Jahre ohne Schlägerei überlebt.

Meine 13jährige Tochter hatte voriges Jahr eine Prügelei, die zuerst nach einem Bandenüberfall aussah. Nach einem Gespräch mit allen Beteiligten in der Schule der „Mädchenbande“stellte sich das Ganze als normale Auseinandersetzung heraus, an der auch meine Tochter nicht unschuldig war. Ich hatte in meiner Schulzeit mindestens ein Dutzend solcher Prügeleien.

Kürzlich meldeten die Medien eine Schießerei auf dem Schulhof der Bruno-Tesch-Schule, in die auch zwei meiner Kinder gehen. Was war passiert? Ein Schüler spielte in der Pause mit dem Gasrevolver seines Vaters. Dabei löste sich ein Schuß. Daß der Schüler unter dem Vorfall selbst am meisten litt und sich bei allen Beteiligten entschuldigte, stand nicht in den Zeitungen. Ich erinnere mich noch gut an die Knall- und Schießmaschinen, die ich mit meinen Kumpels in der Nachkriegszeit in Fulda baute. Mein Bruder verlor bei einer Explosion zwei Finger, ein Freund sogar die ganze Hand.

Aber zurück zum Kiez. In den sechziger Jahren verging kein Monat ohne spektakuläre Morde auf St.Pauli. Die Wiener Zuhälter kämpften gegen die Hamburger Platzhirsche. Die Kölner Jungs, die mit der GMBH (Zuhältervereinigung) kungelten, kämpften mit der Frankfurter Gang, und die Newcomer von der Nutella-Bande kamen allen in die Quere. Keine Woche verging, ohne daß ein schwerverletzter Lude vor dem Hafenkrankenhaus abgelegt wurde.

Statistisch gesehen hat sich die Zahl der Morde und Gewalttaten seither nicht vermehrt. Doch je mehr Rundfunk- und Fernsehsender wir haben, um so mehr Morde und Gewalttaten haben wir, da sie von jedem Medium von einer anderen Seite ausgeleuchtet und somit multipliziert werden.

Niemand aus meiner Familie oder aus meinem Freundeskreis hat hier mit der Kriminalität Erfahrungen gemacht, die er nicht auch in jedem anderen Stadtteil hätte machen können. Meine Frau fühlt sich hier sogar sicherer als in anderen Stadtteilen, in denen sie sich unsicher fühlt, wenn ein fremder Mann hinter ihr geht. Ich vermute, daß dies daran liegt, daß hier die Fronten geklärt sind. Hier gibt es ganz klare Regeln für das Amüsiergewerbe. Wer sich nicht an diese Regeln hält, kann schnell Ärger bekommen – zum Beispiel Touristen, die hier mal die „Sau rauslassen“wollen.

Unser Stadtteil hat viele Probleme, aber er hat nach meinen Erfahrungen überhaupt nichts mit dem Image zu tun, das ihm die Medien überstülpen wollen. Wann immer die Probleme hier groß wurden, wuchs der Widerstand gegen die Verursacher. Das waren in den seltensten Fällen Ganoven oder zugewanderte Minderheiten, sondern Politiker und skrupellose Unternehmer. Nur ein paar Beispiele:

Das Rundhaus am Fischmarkt mit Bernie Ficks Traditionskneipe und der alte Elbspeicher sollten plattgemacht werden. Eine Bürgerinitiative, die sich in der Kirche am Hein-Köllisch-Platz unter Pastor Preuß gründete, verhinderte zumindest den Abriß des Rundhauses und erreichte dessen Restaurierung. Ein Spekulant, der in St. Pauli-Nord Eigentumswohnungen für Leute mit großem Geldbeutel bauen wollte, mußte unter dem Druck der St.Paulianer aufgeben und die Schanzenstraße 41 an eine Genossenschaft verkaufen. In welchem anderen Stadtteil gibt es soviel solidarisches Handeln?

Der FC St.Pauli hat eine Resolution gegen Ausländerfeindlichkeit erlassen, und Besucher des Stadions am Millerntor sorgen dafür, daß die Beschlüsse des Vorstandes auch eingehalten werden. Ich habe erlebt, wie auswärtige Besucher durch gutes Zureden dazu gebracht wurden, ihre Aufnäher mit nationalen Parolen vom Anorak abzutrennen.

Zur Zeit geht wieder einmal das große Monopoly-Spiel mit Grundstücken und Häusern los. Bei jedem Besitzerwechsel steigt natürlich der Preis. Der reale Wert aber verfällt meist. Was dabei herauskommt, sind Firmenpleiten, Leerstand und Existenzvernichtung. Der oft geschmähte König von St. Pauli ist der einzig stabilisierende Faktor in diesem Spiel, da sein Besitz dem Spekulationsmarkt entzogen ist und durch eine vernünftige Hausverwaltung mit ortsansässigen Handwerkern gepflegt wird. Seine Mietpreise liegen vielfach unter denen der stadteigenen Liegenschaftsverwaltung.

Den Leerstand vieler Gewerbeimmobilien rund um den Hans-Albers-Platz verdanken wir dagegen einem Monopoly-Spieler, der gerne der neue König vom Kiez werden möchte. Sogar mit Parallelen zum Film-König der SAT.1-Serie. Er hat viele alteingesessene Läden vertrieben, z.B. Harry Rosenbergs Hafenbasar, einen Schiffsmodellbauer und viele andere „Eingeborene“. Er hat seine Rechnung aber ohne die Kiezbewohner gemacht. Es gibt einen Spruch auf dem Kiez: „Du mußt nur lange genug an der Elbe sitzen, irgendwann schwimmt dein Feind vorbei!“

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen