piwik no script img

1,81 und ein verräterischer Unterkiefer

Gerhard Schröder ist so nervös wie lange nicht. Er spürt, daß das Rennen mit Oskar Lafontaine um die SPD-Kanzlerkandidatur gegen ihn läuft. Die Journalisten wittern hinter jeder Bewegung eine Vorentscheidung  ■ Aus Hannover Markus Franz

So hat es Gerhard Schröder gerne. Bei der Arbeitnehmerkonferenz der IG Metall in Leer am Montag haben Gewerkschafter zum Empfang ihres Landesvaters einen Zaun aus Holz aufgebaut. Dieser ähnelt dem Zaun des Kanzleramtes, an dem Schröder vor Jahren gerüttelt und geschrien haben soll: „Ich will hier rein!“ Schröder wird aufgefordert, die Szene an der Attrappe nachzustellen. Er geht darauf zu – und plötzlich öffnet sich das Tor. Schröder am Ziel seiner Wünsche?

„Das war doch niedlich“, kommentiert der mögliche SPD-Kanzlerkandidat einen Tag später bei einem Presseabend in Hannover die Szene. Er lehnt sich in seinem Stuhl zurück und grinst sein breites Siegergrinsen. Alles wie immer also? Die Zeichen stehen günstig für den niedersächsischen Ministerpräsidenten? Die Leute mögen ihn? Die Journalisten ziehen mit?

Die Journalisten sind knatschig an diesem Abend. Wie sie überhaupt Schröder in den letzten Tagen geärgert haben. So etwa, als sie ihn mit der angeblichen Stichelei gegen das Lager Oskar Lafontaines zitierten. „Die fangen an zu tricksen, die Jungs“, soll Schröder gesagt haben. Das findet er gar nicht nett und guckt die Journalisten der Reihe nach strafend an. Eine Journalistin, die Schröder dafür kritisiert, daß er in einer Spontanaktion die Mehrheitsbeteiligung des Landes Niedersachsens an der Preussag Stahl AG erwarb, bedenkt er mit einer abfälligen Handbewegung. Dann die Szene, über die hinterher alle reden: Schröder erzählt unvermutet, daß er immer zu seiner umstrittenen Umweltministerin Monika Griefahn gehalten habe. Jemand fragt, ob Schröder mit dieser Bemerkung seine Menschlichkeit ins Spiel bringen wolle, gemäß seinem Wahlkampfslogan: Es geht auch menschlich. Schröder zuckt zusammen, starrt den Fragesteller an und faucht: „Wissen Sie, Sie haben gelegentlich eine Umgangsweise mit anderen Menschen, die wenig menschlich ist.“ Dann schickt er noch einen vernichtenden Blick hinterher.

Schröder ist dünnhäutig geworden, heißt es hinterher. So aggressiv sei er sonst nicht. Er spüre wohl, daß es nicht gut für ihn laufe. Er habe ja nie erfahren, was es heiße, harte Zeiten durchzustehen. So wie Lafontaine. Der sei inzwischen viel souveräner. Helmut Kohl, der Lafontaine immer als seinen Lieblingsgegner um die Kanzlerschaft bezeichnet hat, soll sich den Saarländer inzwischen auch nicht mehr wünschen.

Auf einmal bekommt alles Bedeutung. Warum hat Schröder sich an diesem Abend bei seiner kurzen Ansprache an die Journalisten auf die dritte Treppenstufe gestellt? Er ist nun mal nicht der Größte, heißt es. Aber im letzten Jahr hat er das noch nicht getan. Ein Zeichen der Verunsicherung? Und paßt dazu nicht die Geschichte, daß Schröder kürzlich in einem Steckbrief seine Größe ernsthaft mit 1,81 Meter angegeben hat, obwohl er doch viel kleiner ist? Wer so unsouverän ist, soll ein hoher Genosse über Schröder gesagt haben, der wird über seine Fehler noch mal stolpern.

Immer mehr Teile fügen sich zum großen Puzzle zusammen. Hat man Schröder nicht schon beim Wahlkampfauftakt am Wochenende in Hannover angemerkt, wie nervös und unsicher er ist? Lafontaine riß die 11.000 Zuhörer im 30-Sekunden-Takt zu Beifallsstürmen hin. Schröder erntete nur alle drei Minuten pflichtgemäß Beifall. Merkwürdig ernst und kraftlos habe er gewirkt. Ist Schröder der Belastung etwa nicht gewachsen? Zeigt sich jetzt, daß er nicht das Kaliber Lafontaines hat? Oder kann man es auch anders sehen? Zum Beispiel ganz schlicht: Der Mann arbeitet 14 bis 16 Stunden am Tag. Fast alle Fragen der Journalisten drehen sich um die Kanzlerkandidatur, obwohl er doch Wahlkampf für Niedersachsen macht. Da kann es schon mal vorkommen, daß einer ein bißchen gereizter wirkt als sonst.

Man kann es aber auch so sehen: Bei der Bevölkerung ist Schröder ohnehin populär genug, auch ohne feurige Reden. Wichtiger sind hochgereckte Schilder bei der Wahlkampfveranstaltung wie diese: „Danke Gerhard Schröder – Sägewerk Adelebsen“. Der wunde Punkt bei Schröder ist eher die im Vergleich zu Lafontaine geringe Zustimmung beim eigenen Parteivolk. Jetzt ist seine Loyalität gefragt. Deshalb liest er beim Mannheimer Parteitag brav seine langweilige, aber konfliktvermeidende Rede ab, lobt Lafontaine, wo er kann, und gibt, wie jetzt in Hannover, Sätze wie diese von sich: „Wir erfreuen uns gegenseitig an den positiven Umfrageergebnissen des jeweils anderen.“ Aber hat er dabei nicht verräterisch den mahlenden Unterkiefer nach vorne geschoben? Und warum sagt er Sätze wie: „Wir wollen keinen Lagerwahlkampf führen, sondern einen integrativen Wahlkampf.“ Ist das nicht eine eindeutige Kampfansage an den linksgerichteten Blockierer Lafontaine? Und weshalb kritisiert er so häufig Helmut Kohl, wo doch sein Konkurrent in Niedersachsen Christian Wulff heißt?

Fragen über Fragen. Völlig genervt bricht Schröder das Gespräch am Abend frühzeitig ab. „Irgendwann“, sagt er, „werdet ihr noch in jeden Augenaufschlag etwas hineindeuten.“ Schon passiert.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen