■ Die Bewohner des griechischen Dorfs Stratos sehen das antike Erbe mit anderen Augen als die Archäologen. Sie hoffen auf historische Attraktionen und Touristen Von Niels Kadritzke (Text) und Peter Grunwald (Fotos): Euro-Zwänge und 900 Jahre Kult
Wer von Athen anreist, erfaßt die Gunst der Lage auf einen Blick. Hinter Agrinion kreuzt die Nationalstraße5 den Achelos. Es ist die Stelle, wo der wasserreichste Fluß Griechenlands in die Ebene tritt – für eine antike Stadt der ideale Ort. Genau hier verlief früher die einzige Furt, flußaufwärts war der Achelos ein reißendes Gewässer, flußabwärts versumpfte er zum unwegsamen Delta.
Heute überquert man den Achelos auf einem Brückendamm. Wo er wieder festen Boden erreicht, türmen sich Steinquader zu einer grauen Mauer, die rechts am Hang zwischen Gestrüpp und Olivenbäumen verschwindet. Das antike Stratos hatte 20.000 Einwohner, eine Akropolis, eine Agora und einen Zeustempel. Das moderne Stratos hat 2.000 Seelen, eine monströse Betonkirche und eine trostlose Platia. Die viel zu große Fläche ist leer bis auf ein paar Sockelstufen, ein Denkmal dazu gibt es nicht. Die einzigen Farbtupfer auf dieser baumlosen Platia sind zwei Kioske mit Reklamepappen für Eiscreme und Zigaretten. Und dennoch gibt es ein Hoffnungszeichen. Der griechisch-englische Wegweiser „Zur archäologischen Stätte“ zeigt auf einen Hügel mit Kiefernwäldchen. In dem Wäldchen liegt das Hauptquartier der Archäologen, ringsum sägen Zikaden an Kiefernästen. „Stratos ist ein ganz besonderes Projekt“, sagt Ernst- Ludwig Schwandner. Seit acht Jahren leitet der Berliner Archäologe – zusammen mit seinem griechischen Kollegen Lazaros Kolonas – ein Projekt mit dem Titel „Survey Stratiké“. Ein Survey ist keine „Ausgrabung“ im üblichen Sinne, sein Zweck liegt darin, eine ganze Region zu erforschen. Im Fall der „Stratiké“ von Stratos handelt es sich um ein Gelände von über 130 Quadratkilometern, das Staatsgebiet der antiken Polis. Und einer der wichtigsten Fundorte, der Spathari-Hügel, liegt sechs Straßenkilometer von Stratos entfernt.
Der Minibus der Archäologen biegt von der Nationalstraße ab. Bei der Go- Kart-Bahn – die größte Attraktion der Gegend, seit der „Dirty-Dancing-Club“ abgefackelt wurde – geht es auf einem Feldweg weiter. Die Arbeiten auf dem Hügel gehen ins vierte Jahr. Bislang läßt sich die Existenz eines Tempels von der spätarchaischen bis zur hellenistischen Epoche belegen, erzählt Schwandner, während wir das archäologische Handwerkszeug hangaufwärts schleppen. Eine Brandschicht, die von winzigen Knochensplittern durchsetzt ist, gilt ihm als untrügliches Indiz für jahrhundertelang praktizierte Fest- und Opfermähler. Wichtige Fragen sind allerdings noch offen, aber jetzt muß die Grabung schon wieder abgedeckt werden.
Die Kampagne 1997 ist zu Ende, und der Besitzer des Spathari will sein Grundstück im Winter nutzen. Das darf er, weil er noch nicht rechtskräftig enteignet ist. Die Archäologen haben den Antrag eingereicht, das Bodenamt in Agrinion hat die Entschädigungssumme festgelegt, die sich nach der Nutzung der Flächen bemißt. Doch Anfang 1997 verhängte die Regierung in Athen – unter Berufung auf die Euro-Zwänge – eine allgemeine Haushaltssperre. Seitdem sind sämtliche Enteignungen gestoppt. Die Bauern bekommen kein Geld, und Schwandner bekommt ihren Zorn zu spüren: „Der Besitzer ist richtig sauer, weil er sein Grundstück überhaupt nicht nutzen kann. Außerdem haben wir zwei Olivenbäume gefällt, auch die Entschädigung hat er noch nicht. Dafür beschimpft er uns ganz fürchterlich, und wenn wir abends weg sind, läßt er seine Schafe aufs Gelände, damit wir uns ordentlich über deren Abfall ärgern.“
Um das Grundstück gegen die Tiere zu schützen, wird die Grabung mit einer Plastikplane abgedeckt, darüber kommt eine zwanzig Zentimeter starke Erdschicht. Gegen die Schatzsucher hilft das freilich nicht. Schwandner zeigt auf zwei Löcher in der Grundmauer der freigelegten Opferstätte: „Das waren Tombaroli. Die schlagen ein Stemmeisen in den Boden, und wo es hohl klingt, graben sie.“
In den umliegenden Dörfern haben fast alle Bauern Tombaroli-Erfahrung. Auch etliche Grabungsarbeiter waren freiberuflich tätig. Aber wenn sie Mitarbeiter geworden sind, legt Schwandner seine Hand für sie ins Feuer. Schließlich wollen sie, daß die Archäologen wiederkommen. Die Bauern, die auf dem Spathari-Hügel arbeiten, sind auf das Zusatzeinkommen angewiesen. Dieses Jahr sind sie nicht wie üblich für drei Monate eingestellt, sondern nur für zwei Wochen. Darüber diskutieren sie in der Frühstückspause. Am lautesten wird Nikos, der vier Kinder zu Hause hat: „Kaum hat man angefangen, ist es schon zu Ende. Zwei Wochen, und keine Ausgrabungen – nur Aufräumarbeiten, unglaublich. Wer Schuld hat? Die in Athen, die Sesselfurzer im Kulturministerium. Die Archäologie muß sparen, sagen sie. Aber wo spart der Staat? Der öffentliche Dienst verfrißt das ganze Geld.“
Wie überall in Griechenland glauben diese Bauern, daß der Staat – also die Städter – auf Kosten des flachen Landes lebt. Das Ressentiment beruht auf langer Erfahrung, war aber nie unberechtigter als heute, denn die EU-Agrarpolitik garantiert satte Erzeugerpreise, auch für den Tabak, von dem die Gegend um Agrinion lebt. Doch diese Bauern haben Zukunftsangst. Das EU-Paradies dauert nicht ewig, schon droht das Werbeverbot für Zigaretten. Was sie an Stelle von Tabak anbauen können, wissen sie nicht. Eine deutsche Marmeladenfirma will ihnen den Anbau von Zuchtbrombeeren schmackhaft machen. Ob sich das aber rechnen wird?
Nein, es ist so, und es wird immer so bleiben: Der Staat ist ihr Feind. Schon weil Dörfler keine Chancen haben, ihre Kinder im öffentlichen Dienst unterzubringen. Sie würden es nie offen sagen, aber die Wut dieser Grabungsbauern hat auch eine Spitze gegen die technites, die auf demselben Hügel arbeiten. Diese Grabungstechniker ackern nicht mit Schaufel und Karren, und nicht für sechs Mark die Stunde, unversichert. Sie haben ein festes Gehalt plus Sozial- und Krankenversicherung. Und sie hantieren mit feineren Instrumenten.
Apostolis ist ein junger technitis, aber er hat ein sensibles Händchen. Er spürt auch mit Hacke oder Spachtel, ob er gewachsenen Boden oder eine Trümmerschicht unter sich hat. Apostolis arbeitet immer mit Radiomusik. Im Hintergrund läuft ein Werbespot. Ein Institut für Parapsychologie wirbt für Dienstleistungen wie Pendeln und Kartenlegen. „Jetzt liegt die Zukunft nicht mehr im dunkeln. Wir finden für jedes Problem eine Lösung.“ – Eine Lösung, um archäologische Funde zu beschleunigen? Letztes Jahr kam hier ein Bronzearm zum Vorschein, aber die dazugehörige Statue – eine Artemis, vermutet Schwandner – hat sich seither nicht gefunden. Vielleicht sind Pendel und Kristallkugeln überhaupt die einzige Chance für die Archäologie im Zeitalter schrumpfender Staatsausgaben. Akribie ist teuer. Das Abtragen und Durchsuchen jeder Krume Bodens bleibt oft tagelang ergebnislos. „Hier hat 900 Jahre lang Kult stattgefunden“, meint Schwandner leicht verbittert. „Wir haben überall kleine Opfergaben gefunden, Idole, Terrakotten. Aber nur sporadisch, der große Saubermachhaufen muß irgendwo sein, nur haben wir ihn noch nicht. Aber nächstes Jahr...“
„Vor vierzig Jahren lebten wir hier oben nicht viel anders als heute, nur daß es keine Straßen gab. Wir hatten unsere Tiere, Getreide, Oliven. Und Tabak, aber eine andere Sorte, noch nicht Virginia.“ Dimitris Tsambazis erzählt aus seiner Jugend. „Hier oben“ ist der Ort, wo er seine Schafe hütet. Von der Nationalstraße ist das verfallene Dorf nicht zu sehen. Es liegt auf dem Hügelrücken, auf dem Gelände des antiken Stratos inmitten der grauen Ringmauer. Dreißig Häusergerippe, umwuchert von Disteln, Dornen und Feigenkakteen. Ruinen auf Ruinen.
Dimitris kommt jeden Morgen herauf, um seine Schafe abzuholen. Abends treibt er sie über die Agora wieder in den Stall zurück. Der Stall ist sein altes Elternhaus, eine ockergelbe Ruine, die Außenmauern stehen fast unversehrt, Dach und Zwischendecken sind weggebrochen.
Warum ist die Familie weggezogen? „Zwangsenteignung. Die Archäologie hat uns vertrieben.“ Dimitris sagt es ohne Klagen und ohne seine Schafe aus den Augen zu lassen. „Da kamen die Leute von der Regierung und vergaben Bauplätze, unten an der Straße. Anfangs wollte niemand weg. Dann gab es ein paar Häuser umsonst, die Armen gingen als erste. Der Sohn zog die Eltern nach, der Bruder den Bruder, nach ein paar Jahren waren alle weg.“ – Was Dimitris aus der Sicht des Dorfes beschreibt, war aus Sicht der Behörden eine erfolgreiche Taktik. Niemand wurde direkt vertrieben. Man lockte mit Betonhäusern in der Ebene, für das Dorf auf dem Hügel war jede „Modernisierung“ untersagt: keine Asphaltstraße, kein Neubau, keine Aluminiumfenster, die besser gegen Wind und Winterregen schützen.
Kam die Umsiedlung für die Dorfbewohner überraschend? „Klar waren wir überrascht. Wir wußten zwar, daß es hier einmal eine alte Stadt gab, die Stratos hieß oder Sorivigli, was weiß ich. Unsere Leute hier sind Wlachen, und das Dorf nannten wir Sorovigli. Aber warum sollten wir weg? Hier hatten wir uns doch seit langem angesiedelt.“
Die Vorfahren von Dimitris ließen sich zu Beginn des 19. Jahrhunderts auf den Ruinen von Stratos nieder. Ali Pascha, der albanische Herrscher von Epirus, hatte die wlachischen Hirten aus den epirotischen Bergen in der Achelos-Ebene umgesiedelt. Ob der Name Sorovgli erst mit dem Verlassen des alten Dorfes verlorenging, will Dimitris nicht beschwören. Aber der Abstieg ins neue Dorf fällt für ihn mit dem Niedergang ihrer Sprache zusammen. Für die Älteren ist Wlachisch noch heute die Umgangssprache, die Kinder können sie nur noch verstehen, aber nicht mehr sprechen. Mit der nächsten Generation, glaubt Dimitris, wird sich ihr altes Dorfidiom verflüchtigen. Dimitris hat fünf Kinder, die alle aufs Gymnasium gehen. Könnte er nicht bei „der Archäologie“ etwas dazuverdienen? Da lacht er nur bitter: „Jetzt sind andere Mittelsmänner am Drücker. Die Verteilung der Arbeit, die läuft hier auf griechisch.“ Was er meint, ist klar: Selbst die kleinen Jobs werden von denen vergeben, die im Dorf das Sagen haben. Dabei kennt sich Dimitris aus wie kein anderer, im Grunde ist er ja nie weggezogen.
Was ihn heute noch erbittert, sagt er erst am Schluß. Die Anordnung aus Athen kam 1963. „Die Archäologie“ hat sie vertrieben, aber dann ließ sie sich auf dem geräumten Gelände ewig nicht blicken. Die ersten Grabungen begannen 1989. Und bis heute kann Dimitris kaum Fortschritte erkennen. Er zeigt auf die Agora, die 200 Meter unterhalb seines Elternhauses liegt: „Wir hören, daß hier jedes Jahr viele Millionen Drachmen verpulvert werden. Aber wir sehen nichts. Hier gibt es sehr schöne Sachen, aber seit drei Jahren wird nicht mal das Unkraut beseitigt.“
Der Schäfer Dimitris hat einerseits recht – wenn man Stratos an blankgefegten Gesamtkunstwerken wie Delphi oder Olympia mißt. Andererseits hat ihm offenbar niemand erklärt, was ein Survey-Projekt ist. Daß es in erster Linie der wissenschaftlichen Erkenntnis dient und nicht der touristischen Aufbereitung antiker Hinterlassenschaften; nicht einmal in zweiter Linie. Aber wenn man ihm das klarmachen würde, wäre Dimitris tief enttäuscht.
Das weiß auch Franziska Lang, die gleich neben der Agora arbeitet. Ihre Werkstatt, in der sie Tausende von Keramikscherben bearbeitet, ist ein altes Wlachenhaus. Daß viele sich ins alte Dorf zurücksehnen, versteht sie gut: „Hier oben ist das Klima angenehmer und kühler, es gibt mehr Wind und weniger Mücken.“ Über die Einstellung der Dörfler macht sie sich keine Illusionen: „Daß wir hier sind, finden sie okay. Aber das Interesse an den Antiken ist begrenzt. Nur wenige fragen, was wir eigentlich machen. Viele glauben noch die Mär, die Archäologen würden nur Gold suchen. Daß wir 2.000 Kilometer aus Deutschland angereist kommen, um monatelang kaputte Scherben zusammenzukleben, ist für sie kaum begreiflich.“
Der Sinn von Franziskas Arbeit liegt darin, die Funktion der im Felde gefundenen Keramik zu rekonstruieren, um die Siedlungsgeschichte zu erschließen. Ihre Scherbensammlung ist touristisch unergiebig, doch touristische Verwertung ist genau das, was sich die Einheimischen von der Archäologie versprechen. Vorneweg der Bürgermeister, weiß Franziska zu berichten: „Der hätte gern, daß wir auf dem Zeustempel zumindest eine Säule aufrichten. Die wäre imposant und mächtig, man würde sie in der ganzen Ebene sehen.“
Die Idee eines antiken Leuchtturms, der Touristen anlockt, ist mit Aufgaben und Ethos der Archäologen völlig unvereinbar. Gewiß, die umgestürzten Säulentrommeln des Tempels ließen sich relativ rasch aufeinandertürmen, aber das wäre gegen alle Regeln wissenschaftlicher Rekonstruktion. Die würde fünf bis zehn Jahre dauern und wäre angesichts schrumpfender Kulturetats viel zu teuer.
Auch das antike Theater würde der Bürgermeister gerne nutzen, für Freiluftkonzerte, Theodorakis und so weiter, am liebsten ein komplettes Festival. Und warum nicht Aufführungen des Stadttheaters von Agrinion? Im Prinzip müßten die Archäologen solche Pläne verhindern. „Aus restauratorischen Gründen“, sagt Franziska. Restauratorisch gesehen wäre es die beste Lösung, das ausgegrabene Theater wieder unter die Erde zu bringen. Die weichen Steine leiden unter jedem Regen, und die Sitzreihen sind zu mürbe, um eine Tribünenkonstruktion zu tragen.
Aber die Archäologen wissen, daß am Ende die politischen Instanzen entscheiden. Franziska hat dafür sogar Verständnis: „Die Archäologie kann die Motive der Politiker nicht ignorieren. Schließlich finanziert sie sich aus öffentlichen Geldern. Also muß man sich auch ein wenig nach der Öffentlichkeit richten.“
Wenn es in Stratos so etwas wie „Öffentlichkeit“ gibt, findet man sie im Kafenion. An der Betonplatia gibt es sechs von ihnen. In einem sitzt Giorgos. Er ist etwa Ende fünfzig und hat einen Lastwagen, den er sich in Deutschland verdient hat. Damals in Lippstadt, erzählt Giorgis, spielte er Fußball in einem griechischen Verein, der sich „Anajenissi“ nannte, zu deutsch „Wiedergeburt“.
Giorgos erzählt auch, wie er als kleiner Junge in Sorvigli das Blei aus den herumliegenden antiken Quadern herausgebrochen hat. Heute weiß er, daß die Bleidübel dazu dienten, das Mauerwerk zu verklammern – ein antiker Erdbebenschutz.
Alles, was Giorgos über das alte Stratos berichtet, hat er von den Archäologen gelernt. Nicht direkt zwar, aber von Leuten wie Vassilis. Der junge Mann war eine Zeitlang bei „der Archäologie“ beschäftigt und hat Fortbildungsseminare besucht, in der man viel über die Geschichte der Region erfuhr.
„Wir waren hier die Akarnanen“, sagt Vassilis. Für ihn und Giorgos ist es völlig unerheblich, daß ihre wlachischen Vorfahren viel später zugewandert sind. Dies ist ihre Gegend, und zu der gehört die ganze Geschichte. „In Stratos haben sie große technische Leistungen vollbracht“, meint Giorgos, „die waren perfekt organisiert, viel besser als wir heute.“ Dennoch fragt sich Giorgos, wie diese Arkananen die tonnenschweren Steinquader zur Akropolis hochgeschafft haben. Die Frage entfacht eine heftige Kontroverse. Vassilis referiert, man habe die Quader aus einem nahen Steinbruch mit Zugtieren und Karren herantransportiert. Da geht eine andere Stimme dazwischen. „Was wißt ihr über unsere Vorfahren“, ruft ein unrasierter Alter. „Das waren völlig andere Wesen. Das waren Riesen, mit solchen Schultern.“ Und er reckt dramatisch seine dünnen Arme in die Höhe, als würde er einen tonnenschweren Quader über dem Kopf balancieren. „Die wurden 200 Jahre alt, liefen nackt herum, und hinten hatten sie einen langen Schwanz.“
Vassilis korrigiert souverän: „Unsinn, du redest jetzt von den Urmenschen.“ – „Nein“, sagt der Alte, „wir sprechen von der Zeit vor Christi Geburt. Riesen waren das damals, Giganten.“ Das Kafenion wird zur Volkshochschule. Vassilis erklärt den Unterschied zwischen Mythologie und wissenschaftlicher Erkenntnis über den Ursprung des Menschen. Ungerührt entwickelt der Alte eine neue Theorie über die Entstehung der antiken Mauern: Die Vorfahren haben die Steine an Ort und Stelle geformt. Mittels einer geheimnisvollen Flüssigkeit konnten sie Erde in eine steinharte Masse verwandeln. Als kleiner Junge hat er selber eine Flasche dieser antiken Essenz gefunden.
Die Theorie mag unhaltbar sein, aber unbestreitbar ist, daß sich die Männer im Kafenion von Stratos leidenschaftlich für ihre Geschichte interessieren. Vielleicht sollten sich die Archäologen die Zeit nehmen, dem Dorfpublikum ihre Erkenntnisse darzulegen. Doch die Zeit ist knapp. Am letzten Wochenende ist die Sonntagsruhe aufgekündigt. Die Fortschritte der Kampagne müssen dokumentiert werden. Am Spathari-Hügel zischt Helium aus einer Gasflasche in den signalroten Ballon, bis er einen Meter Durchmesser hat. Peter Grunwald montiert seine Kamera, die aus vierzig bis fünfzig Meter Höhe den Stand der Arbeiten festhalten soll. Bei ständig wechselnden Winden versucht der Fotograf zusammen mit Schwandner, den Ballon mit der Führungsleine über der Tempelgrabung zu halten. Als der Ballon richtig steht, ist die Kamera ins Pendeln geraten. Peter Grunwald meint: „Wenn jede zehnte Aufnahme brauchbar ist, kann man zufrieden sein.“
Als die Ballonbilder im Kasten sind, geht ein letzter Rundblick über die herbstliche Ebene. Schwandner zeigt in Richtung Westen: „Da drüben war vor Jahren noch ein Hügel. Auf dem haben wir 1992 eine antike Siedlung entdeckt, mit wunderbaren klassischen Scherben. Aber es war keine Zeit mehr, alles zu vermessen. Im Jahr darauf war der Hügel nicht mehr da. Das passiert hier ständig. Je leichter die Bauern mit Bulldozern störende Hügel und Felsen abfahren können, desto mehr geht verloren. In der Hinsicht kommt unser Survey leider zwanzig Jahre zu spät.“
Auch im Archäologenhaus unter den Kiefern werden die Ergebnisse der Kampagne gesichtet. Vor Jörg Denkinger liegen gelbe, rötliche, erdfarbene Ziegelfragmente. Der Dachspezialist soll die Bau- und Verfallsgeschichte der verschiedenen Tempel auf dem Spathari-Hügel ermitteln. Dazu muß er Funktion und Formen der Ziegel analysieren.
Jörg Denkinger macht sich auch Gedanken, was Archäologie für ein Dorf wie Stratos bedeutet. Und über den Konflikt zwischen seinen eigenen Interessen und den Bedürfnissen der Menschen, die noch vor dreißig Jahren mitten in „der Archäologie“ wohnten. Natürlich müsse man Baustrukturen beseitigen, die einer Grabung direkt im Wege stehen. Aber was mit dem Wlachendorf geschehen ist, da ist man sicher zu weit gegangen: „Nach dem Prinzip: Was nicht einer bestimmten Epoche zugeordnet ist, wird abgerissen. Damit hat man die Chance vertan, mehrere Kulturepochen miteinander koexistieren zu lassen. Dem Besucher nicht nur eine gereinigte archäologische Fläche vorzuführen, sondern auch den Kontrast zwischen damals, vorgestern und heute.“
An das Dorf Sorovigli erinnert immerhin die alte Kirche neben dem Archäologenhaus, die dem Ayios Nikoloas geweiht ist. Alljährlich zum Tag des Heiligen gibt es ein Fest, zu dem das halbe Dorf hochkommt. Auch die Archäologen haben die Kirche auf fast symbolische Weise als historisches Zentrum dieser Landschaft angenommen. Der wichtigste Basispunkt für die Vermessung des gesamten Survey-Geländes liegt auf einer Treppenstufe neben der verschlossenen Kirchentür.
Lazaros Kolonas ist aus Patras gekommen, um mit seinem deutschen Kollegen Schwandner die Zukunft des Survey-Projekts zu erörtern. Die sieht nicht gut aus, der griechische Staat muß weiter sparen. Die Regierung hat beschlossen, 1998 und 1999 alle Grabungen einzustellen. Kolonas sieht den Geldmangel auch als heilsamen Zwang: „Wir graben, graben, graben, legen ständig Sachen frei, die wir dann mangels Geldes liegenlassen, und die dann leider zerstört werden.“
Hinter den Athener Sparmaßnahmen steht der Druck des Euro, denn Griechenland will dem EU-Währungsverbund beitreten. Aber auch in Deutschland drücken die Euro-Zwänge auf die Kulturausgaben. Immerhin wurde für 1998 wenigstens eine „Notgrabung“ in Stratos bewilligt. Für die Bauern an der Betonplatia bedeutet das freilich noch weniger Arbeitswochen. Es wird ihr unerschütterliches Urteil über den Staat bestätigen.
Doch aus ganz unerwarteter Richtung gab es für das Dorf auch ein Hoffnungszeichen. Im Herbst, nach dem Abzug der Archäologen, erlebte die antike Freilichtbühne Stratos nach über 2.000 Jahren ihre Wiedergeburt. Das Stadttheater Agrinion spielte vor bröselnden, aber vollbesetzten Rängen das Shakespeare-Stück „Was ihr wollt“.
Wer die Aufführung letztlich gewollt hat, läßt sich aus der Ferne schwer beurteilen. Sicher ist nur, daß die griechischen und deutschen Archäologen nicht glücklich waren. Nach der Premiere hielten sich die Schäden an der antiken Baumasse zwar in Grenzen, aber Lazaros Kolonas hat schon erklärt, daß es wohl bei der Premiere bleiben wird.
Was ihr wollt, wie es euch gefällt. Dem modernen Stratos hat Shakespeare dennoch eine bleibende Errungenschaft beschert. An der Nationalstraße 5 stehen seit der Theaterpremiere auf den letzten hundert Kilometern vor der Achelos-Brücke ein halbes Dutzend amtsblaue Hinweisschilder. Sie teilen auf griechisch und englisch mit, wie weit es noch bis zum „Antiken Theater Stratos“ ist. Irgend jemand hat endlich beschlossen, den Tourismus in Schwung zu bringen.s
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