: „Die Schule vermittelt reaktionäres Familienbild“
■ Schwule und lesbische SchülerInnen beklagen, daß Homosexualität im Unterricht kaum vorkommt. Landesschulrat Hansjürgen Pokall verspricht Fortschritt im Schneckentempo
Seit seine Mitschüler wissen, daß er schwul ist, hat Tobias Rutkowski in seiner Friedenauer Schule „nur noch Probleme“. Seine MitschülerInnen nähmen ihn „nicht mehr als Persönlichkeit“ wahr, klagt der 15jährige, sondern nur noch als „Schwuchtel“. In einer Sitzung der GesamtschülerInnenvertretung (GSV) schlug Tobias deshalb vor, Homosexualität im Unterricht zu behandeln. „Schulleiter und anwesende Biologie-Lehrkräfte“ lehnten jedoch „das pauschale Abhandeln des Minderheitenthemas in dieser Form ab“.
In Rahmenplänen, Schulgesetzen und Lehrbüchern sind Schwule und Lesben nicht vorgesehen. Wie sich das ändern ließe, berieten am Donnerstag abend LehrerInnen, SchülerInnen und Eltern bei einer Diskussion der Senatsjugendverwaltung über „Junge Lesben und Schwule in der Schule“. Was die Schule selbst nicht leistet, versuchen lesbisch- schwule Aufklärungsprojekte mit Unterrichtsbesuchen zu ersetzen – zu denen sie aber erst einmal von Lehrern eingeladen werden müssen. Über die Wirkungen ihrer eineinhalbstündigen Diskussionen mit SchülerInnen macht sich Antje Harms vom Jugendnetzwerk Lambda aber keine Illusionen. „Wenn ich zwei SchülerInnen zum Umdenken gebracht habe, dann ist das schon viel.“
Mehr als zwei Drittel der Berliner SchülerInnen wünschen sich, daß das Thema Homosexualität häufiger und ausführlicher im Unterricht behandelt wird – das ergab eine Umfrage schon vor drei Jahren. Bislang hat sich die Senatsschulverwaltung aber diesem Wunsch beharrlich verschlossen. Staat und Schule könnten „ein derartiges Verhalten nicht als ,normal‘ hinstellen und dafür werben“, ließen die Beamten noch 1991 die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) wissen.
„Wir befinden uns wie die Gesellschaft auf einem Weg“, warb Landesschulrat Hansjürgen Pokall um Verständnis für den langsamen Lernprozeß seiner Behörde. Immerhin ließ seine Wortwahl einen Sinneswandel erkennen: Während er anfangs nur von einer „besonderen Lebensform“ sprach, redete er gegen Ende der Veranstaltung immer häufiger von „Schwulen und Lesben“. Bevor er in den Schulen schwul-lesbische Aushänge am Schwarzen Brett erlaubt, will er sich aber erst noch „beraten“ lassen. Doch wollte er schon seine bloße Anwesenheit als Geste gewertet wissen: „Glauben Sie doch nicht, daß es bei seinen Untergebenen nur Freude auslöst, wenn der Landesschulrat auf einer solchen Veranstaltung ist.“
Immerhin versprach Pokall, bei der Überarbeitung des Rahmenplans Sexualkunde werde es „ein Kapitel ,Gleichgeschlechtliche Lebensweisen‘ geben“. Mit ein bißchen Sexualkundeunterricht sei es aber nicht getan, hielt ihm eine Lehrerin aus dem Publikum entgegen, „die Schule vermittelt insgesamt ein reaktionäres Familien- und Gesellschaftsbild“.
„Akzeptanz ist mehr als Toleranz“, hielt das Publikum den vagen Toleranzbekenntnissen Pokalls entgegen. „Mein Toleranzbegriff schließt Akzeptanz ein“, erwiderte der Gescholtene, doch sei „die Macht eines Landesschulrats begrenzt“. Der Schüler Tobias Rutkowski wollte sich damit aber nicht zufriedengeben. „Sie können eine ganze Menge machen, das weiß ich!“ Ralph Bollmann
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen