: "Ich verliere die Beherrschung"
■ 38jähriger Autolackierer wegen versuchten Mordes vor Gericht. Er warf seinen dreijährigen Sohn aus einer im fünften Stock gelegenen Wohnung. Schon mehrmals ließ er seine Wut an Schwächeren aus
Auf den ersten Blick macht der 38jährige Autolackierer Detlev St. einen ruhigen Eindruck. Aber in dem unscheinbar aussehenden Sozialhilfeempfänger tickt eine Zeitbombe. Ein geringfügiger Anlaß genügt, und er verliert die Kontrolle: Seine Wut läßt er mit Vorliebe an Schwächeren aus.
Vor elf Jahren schleuderte er einen Hund über ein Brückengeländer. Wenig später stieß er einen 79jährigen Rentner aus Verärgerung um. Der Mann brach sich die Wirbelsäule und starb. Mitte der 90er Jahre schmiß er einen Fernseher und zwei junge Schäferhunde von einem im sechsten Stock gelegenen Balkon. Am 6. Mai 1997 schließlich warf er seinen eigenen Sohn aus dem Fenster. Es erscheint wie ein Wunder, daß der dreijährige Peter* den Sturz aus dem fünften Stock eines Plattenbaus in Hellersdorf überlebt hat.
Seit gestern muß sich Detlev St. wegen versuchten Mordes vor dem Landgericht verantworten. „Was mit meinem Sohn Peter passiert ist, tut mir unwahrscheinlich leid“, sagte er stockend. Die Betroffenheit war ihm abzunehmen, aber seine beständigen Reden von dem „schrecklichen Vorfall“ paßten gar nicht zu seiner sonstigen Wortwahl und wirkten einstudiert.
Am Tattag hatte der Angeklagte 2,7 Promille intus. Zusammen mit einem Kumpel renovierte er die Wohnung eines Saufkumpans. Den Dreijährigen hatte er den ganzen Tag bei sich. Die Staatsanwaltschaft geht davon aus, daß es dem Vater mißfiel, daß Peter „nicht gehorchte und rumjammerte“. Darüber sei der Mann so in Wut geraten, daß er das Kind aus dem offenen Fenster geworfen habe.
Nein, er habe sich über den Jungen überhaupt nicht aufgeregt, behauptete der Angeklagte immer wieder. „Dann wird es noch unverständlicher“, schüttelt der Vorsitzende Richter Achim Sachs den Kopf. Er wisse auch nicht, was in ihn gefahren sei, sagte Detlev St. „Das ist ja das Schlimme, ich verliere die Beherrschung.“ Diese „schrecklichen Sachen passieren auch ohne Alkohol“, spielte er auf die drei Hunde und den Fernseher an. „Aber es ist doch wohl ein Unterschied, wenn es sich um den eigenen Sohn handelt“, bohrte Sachs ergebnislos nach.
Als die Tat geschah, hatte sich Detlev St. seit wenigen Wochen in nervenärztlicher Behandlung befunden. Seine Ehefrau Claudia war offenbar die treibende Kraft dafür gewesen, denn in der Ehe krachte es gewaltig. Der Autolackierer und die Frau waren seit 1993 liiert. Im selben Jahr wurde Peter geboren, ein Jahr später Martina*. Die Familie lebte zunächst in einer Einzimmerwohnung, in der sich der Angeklagte insbesondere von seinem Sohn sehr gestört gefühlt haben soll. Einmal schlug er Peter eine Tür so an den Kopf, daß der Junge ins Krankenhaus mußte. Auch die Frau bekamen seine Fäuste zu spüren. Aber weil der Mann stets Besserung gelobte, zog die Frau die Anträge auf Scheidung immer wieder zurück.
Claudia St. ist in dem Prozeß Nebenklägerin. Sie verweigerte gestern jedoch die Aussage, weil gegen sie selbst ein Verfahren wegen Kindesvernachlässigung anhängig ist. Die Scheidung ist inzwischen vollzogen, und die Kinder befinden sich in einer Pflegefamilie. Am Wochenende darf die Mutter sie besuchen. Der Prozeß wird fortgesetzt. Plutonia Plarre
Namen von d. Red. geändert
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