: Immer auf Augenhöhe
Die Sehnsucht nach einem Leben jenseits des Existenzkampfes: Nikolaus Geyrhalter, österreichisches „Wunderkind“ des Dokumentarfilms, drehte in Bosnien „Das Jahr nach Dayton“ – ein eindrucksvolles Werk ■ Von Stefan Reinecke
1994, als in Bosnien noch der Krieg tobte, sprach ein Passant in einer westdeutschen Großstadt einem Radioreporter einen bemerkenswerten Satz ins Mikrophon: „Bosnien geht mir am Arsch vorbei.“ Dieser Satz, der nicht wenigen aus dem Herzen sprach, markierte ein Versagen der politischen Publizistik: Das bereits im Golfkrieg erprobte und prinzipienfest aufgeführte Stück „Interventionisten gegen Pazifisten“ war offenbar die falsche Inszenierung, um das Publikum für den bosnischen Krieg zu interessieren.
Die Dokumentarfilmer waren stets einen Schritt weiter, weil sie unverstellt zeigten, was geschah. Pepe Danquarts und Klaus Wildenhahns Porträts über Hans Koschnicks Arbeit in Mostar oder Radovan Tadics „Die Lebenden und die Toten von Sarajevo“ erlaubten einen Blick in Augenhöhe. Dort konnte man sich ein Bild vom Alltag des Krieges machen, der in den Feuilletonschlachten kaum vorkam.
In diese Tradition fügt sich auch „Das Jahr nach Dayton“. Der Film, knapp dreieinhalb Stunden lang, ist nicht nur ein Panoramablick auf Bosnien nach dem von den USA verordneten Kriegsende 1996, sondern auch ein traumwandlerisch sicher erzähltes Kunstwerk. In vier Kapiteln, Frühling, Sommer, Herbst und Winter, etabliert der Film gut ein halbes Dutzend Personen, deren Schicksal wir verfolgen. Es ergibt sich so etwas wie eine „Short Cuts“-Dramaturgie. Verschiedene, scheinbar unverbundene Erzählstränge verdichten sich zu einem Gemälde gesellschaftlicher Wirklichkeit. Regie, Kamera, Produktion und Buch: Nikolaus Geyrhalter aus Wien. 26 Jahre ist er alt und eine Art Wunderkind des Dokumentarischen.
Am Anfang eine Straßenszene, scheinbar en passant gefilmt. Im Hintergrund sieht man zerstörte Häuser, und ob dies Mostar oder Sarajevo ist, ob man serbische, kroatische oder muslimische Bosnier sieht, vermag man nicht zu sagen. Es ist kalt, ein Feuerchen glimmt auf dem Trottoir, und es ensteht ein Gespräch über die Liebe. „Die Liebe“, sagt einer lachend, „haben sie in Dayton verboten.“ Ein anderer: „Liebe, ja eine reiche Witwe mit einem Haus, das wär's.“ Und ein dritter: „Mir ist kalt. Eine Wohnung brauchen wir. Und was zu essen. Dann kann man wieder flirten.“
Diese Szene sieht federleicht aus, als wäre sie zufällig in den Blick geraten. Gleichzeitig wirkt sie perfekt, so als würden die Figuren Theatertexte sprechen, in denen sie ihr Schicksal beschreiben. Zudem funktioniert diese Szene wie eine Ouvertüre, in der das Wesentliche anklingt: der zermürbende Nachkriegsalltag und die unstillbare Sehnsucht nach einem Leben, das mehr ist als der tägliche Existenzkampf.
Später sieht man ein Mädchen, Muslimin, mit wachen, klugen Augen. „Meinen Vater haben die Serben umgebracht“, sagt sie. Früher, bevor sie vertrieben wurden, hatte sie eine serbische Freundin. Heute würde sie mit ihr kein Wort mehr reden. Es gibt keine einfachen Lösungen. Wir sehen Mrkajic Rajko, Autoschlosser und Serbe. Im Krieg floh er nach Sarajevo. Doch das Gebiet, in dem er wohnt, wurde in Dayton den Muslimen zugesprochen. „Ich habe alles verloren“, sagt er. Aber überlebt. Im Winter sehen wir ihn wieder, bei Srebenica. Das Haus, in dem er nun wohnt, gehört wieder einem Muslim. „Wenn der wiederkommt, müssen wir wieder weg“, sagt Rajko.
Immer wieder dreht sich alles um die Häuser: die eigenen, aus denen vor allem die Muslime vertrieben wurden, die neuen, die anderen gehören, die vielleicht zurückkehren werden. Und man versteht, wie dieser Krieg funktioniert: wie ein System, das Tatsachen schafft, die den Krieg befördern. Der Krieg ist Irrsinn, sagen alle – kroatische, muslimische und serbische Bosnier. Und im nächsten Atemzug: Wenn es wieder losgeht, bin ich wieder dabei.
Geyrhalters Kunst besteht darin, für seine Figuren einen Raum und eine Atmosphäre zu schaffen, in der sie sich entfalten können. Das dauert seine Zeit, aber man wird stets belohnt: mit einer Pointe, einer Erkenntnis, einer unvermuteten Wendung. „Das alles klingt nach Trockenbrot und Augenbuße, ist es aber nicht“, hat ein österreichischer Kritiker geschrieben. Nein, keine Augenbuße, das Gegenteil ist der Fall: ein visueller Reichtum und eine Komplexität, die in 1:30 nicht zu haben ist.
In einer langen, fast halbstündigen Szene verfolgt man die Exhumierung eines Massengrabes. Man sieht, wie jene, die versuchen, die Leichenreste zu identifizieren, um Professionalität ringen. Und man versteht den Unterschied, den es macht, „Massengrab“ oder „ethnische Säuberung“ zu sagen – oder zu sehen, wie die Helfer das T-Shirt eines Fünfjährigen oder die Reste eines Babies bergen. Um zu begreifen, was den Muslimen in diesem Krieg geschah, reichen Worte nicht aus. Man muß hinschauen.
Wahrscheinlich kann man den Tod, wie Andre Bazin schrieb, im Kino nicht zeigen. Aber man muß es manchmal versuchen. So wie Nikolas Geyrhalter: vorsichtig, genau, um Professionalität ringend.
„Das Jahr nach Dayton“ entfaltet eine wundersame Dialektik. Gerade weil der Film nicht belehrt, hat er einen aufklärerischen Effekt. Er macht es schwierig zu sagen, daß uns „Bosnien am Arsch vorbeigeht“, weil er uns die Menschen nah vor Augen rückt. Weil er keine politische Botschaft hat, öffnet er den Blick für Politik. Er plädiert nicht für ein multiethnisches Bosnien. Doch indem er die Individuen in den Mittelpunkt rückt, widerspricht er den nationalistischen Ideologien, die den einzelnen stets als Teil des ethnischen Kollektivs definieren.
Am Ende hören wir eine Lehrerin aus Sarajevo, eine der wenigen Intellektuellen in diesem Film. Glaubt bloß nicht, daß die Massaker eine Krankheit des Balkan waren, sagt sie. Sie sind das Ergebnis einer faschistischen Ideologie. Es kann überall passieren. Auch bei euch.
Forum: heute, 20 Uhr, Arsenal; 15.2., 16 Uhr, Akademie der Künste
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