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Kultivierter Wilder Westen

Man gibt sich offen und liberal, fahrradfreundlich und umweltbewußt: Boulder/Colorado, einst ein Eldorado, heute ein Kulturzentrum – mit Schattenseiten  ■ Von Balduin Winter

Jackson besingt das ärgste Trauma des US-Bürgers: Er fährt mitternachts auf einem einsamen Highway, plötzlich stottert der Motor, das Benzin ist alle, nichts geht mehr, weit und breit keine Tankstelle in der Prärie. Da steht er, seiner Freiheit auf Rädern beraubt, die ihm Inbegriff aller Freiheit ist, nichts geht mehr...

Jackson, zwei Meter hoch bis zur Glatze, steht auf der kleinen Bühne im Basketballdress, Number 23, versteht sich, darüber ein elegantes Sakko, die melancholischen Augen großflächig mit einer schwarzen Sonnenbrille bedeckt. Er begleitet sich selbst auf der Gitarre, er schreibt seine Musik und seine Texte selbst. Für seine Auftritte findet er nur ein kleines Publikum. Etwa vierzig Menschen sind gekommen, um den sozialkritischen Tierpfleger mit seinen ironischen Liedern zu hören – wenig für eine Stadt, die zwar nur rund hunderttausend Einwohner hat, doch aufgrund zweier Universitäten und zahlreicher kultureller Einrichtungen einen hohen Anteil an Intellektuellen und Studenten.

Auf die Studenten habe er ein Lied geschrieben, erzählt Jackson später. Vor zwei Semestern haben sie randaliert, Auslagen eingeschlagen, Autos zertrümmert und angezündet. Vermutlich suchte sich der Haß auf die neuerliche Erhöhung der Studiengebühren ein Ventil, aber seine gewalttätige Artikulation ohne politische Botschaft konnte kein Verständnis finden. Im Gegenteil. Dabei bietet Boulder gute Voraussetzungen für einen kritischen Dialog, mit einem Durchschnittsalter von 29 Jahren ist die Bevölkerung auffallend jung, sie verfügt über ein hohes intellektuelles Niveau, denn über die Hälfte hat ein College absolviert. Politisch gibt man sich offen und liberal, fahrradfreundlich und umweltbewußt, nimmt aktiv am öffentlichen Leben teil und wählt mehrheitlich demokratisch. Seit der Randale aber begegnet man den Studenten eher mißtrauisch. Denn die wohlhabende Mittelschicht der Boulderites wacht eifersüchtig und lokalpatriotisch über ihr Image als Stadt der positiven Superlative, als schönste Stadt im Westen, als kulturelles Zentrum von Colorado, als behindertengerechte Stadt, als Stadt mit der höchsten Fahrradquote in den USA, als Ausgangspunkt prachtvoller Wanderungen in die Rocky Mountains.

Insbesondere scheint es die Stadt darauf abgesehen zu haben, den Ruf der US-Amerikaner als kulturloses Volk gründlich zu widerlegen. Neben dem Colorado Shakespeare Festival, einem der drei großen Festivals dieser Art in den USA, findet alljährlich ein Colorado Music Festival mit weltbekannten Interpreten klassischer Musik statt, weiters das international stark besetzte Colorado Dance Festival. Überhaupt ist die sommerliche Sauregurkenzeit gespickt mit Veranstaltungen aller Art. Nur ein Beispiel: In der Boulder Public Library und im Boulder Book Store treffen sich auch sommers über sechs Lesegruppen; montags diskutiert ein „Shakespeare Round Table“, dienstags befaßt sich ein Arbeitskreis mit Kinderliteratur, eine andere Gruppe namens „Pretty Darn Good Books“ studiert Montaigne, Descartes und Dostojewski, mittwochs kommt eine „Arabic Literature Discussion Group“ und eine weitere Gruppe für Kinderbücher zusammen, donnerstags liest ein Kreis „Literatura de Latino-Americana“ Gabriel Márquez' „Chronik eines angekündigten Todes“.

Steve Glazer, Dekan des Naropa Institute, macht mich auf einen anderen Aspekt des geistigen Lebens in Boulder aufmerksam. Hier gründete 1974 der Mönch Chögyam Trungpa Rinpoche eine Universität der besonderen Art, das einzige buddhistische College in den USA, dessen Kursprogramm und Abschlüsse – sozusagen Doktor des Buddhismus – offiziell anerkannt sind. Teil dieser Universität ist die „Jack Kerouac School for Disembodied Poetics“, begründet von der Lyrikerin Anne Waldman und von Allen Ginsberg. Im Sommerprogramm 1997 wollte der im April verstorbene Ginsberg noch einen Kurs über Leben und Werk von William Blake halten.

Die Verbindungen Boulders zur Beat Generation sind vielfältig und immer noch vorhanden. Der Boulder Beat Book Shop in der Pearl Street dokumentiert dies ein wenig nostalgisch. An den Seitenwänden der Auslage hängen zwei alte Plakate mit zwei Ikonen US-amerikanischer Alternativbewegungen. Das eine kündigt ein Konzert in New York an, 1967, und zeigt Janis Joplin ohne Textilien, die Blöße mit Blumengirlanden umgürtet; auf dem anderen gegenüber posiert Allen Ginsberg 1963 nackt an einem Meeresufer. Flower Power und Beatnik schauen sich in die Augen. Zwischen ihnen, auf dem Boden der Auslage liegen abgegriffene Bücher, eine seltsame Melange, Philip Whalen (Scenes of Life at the Capital), Gary Snyder (Riprap And Cold Mountains) und natürlich einige Titel des Dreigestirns Ginsberg, Kerouac und Burroughs. Hinter der Auslage befinden sich die engen Räume des Buchladens und Antiquariats. Die Buchhändlerin erzählt mir, daß in Boulder zehn Kulturzeitschriften erscheinen. „Friction“ mit Texten von Ginsberg, Ferlinghetti, Coolidge, Waldman, Orlowsky und anderen sowie „Bombay Gin“, die Literaturzeitschrift der „Jack Kerouac School“, sind eindeutig auf die Beatniks ausgerichtet. Aber auch „Human Means“ und die buddhistisch orientierte „Shambala Sun“ drucken Beattexte. Überhaupt sei die Nachfrage seit dem Tod von Ginsberg und Leary deutlich gestiegen, uralte Titel werden wieder aufgelegt, zahlreiche „Sachbücher“ erscheinen und ziehen die Maschen des Mythos fester, der schon früh um die erste Generation der Beatniks gestrickt worden ist.

Noch ein ganz anderes Boulder gibt es, jenes Boulder, das sich mit Städten wie Anderson/Indiana oder St. Joseph/Missouri vergleichen läßt, mit sogenannten gesichtslosen Städten, die man gern mit oberflächlicher Typik als „amerikanisch“ etikettiert. Es ist jenes Boulder im Süden und Osten des „historischen Kerns“, das in den siebziger Jahren als High- Tech-Zentrum viele Menschen anzog – in nur 22 Jahren stieg die Bevölkerungszahl von 20.000 auf 72.000. Mit der großen Rationalisierungswelle bauten IBM, Ball Aerospace Division, Neodata Service und andere Firmen ihr Personal beträchtlich ab. Viele müssen heute in Billigjobs arbeiten, den sogenannten McJobs, für die die Unternehmer nur den gesetzlichen Mindestlohn von 4,75 Dollar bezahlen. Über das staatliche Sozialprogramm „Earned Income Tax Credit“ (EITC) wird der Stundenlohn auf 7 Dollar angehoben – im Grunde genommen eine großangelegte Subvention von Lohnkosten. Das Auskommen mit bloß einer Arbeit ist für viele unmöglich geworden, sie benötigen mehrere Teilzeitjobs und somit mehr Arbeitszeit. Eine Langzeitstudie von Juliet Schor von der Harvard University zeigt, daß die Jahresarbeitszeit bei Vollerwerbstätigen drastisch zugenommen hat. Seit den späten sechziger Jahren setzte eine „historische Wende“ mit einem kontinuierlichen Anstieg ein, der den Begriff der „Freizeitgesellschaft“ fragwürdig erscheinen läßt. Die gesellschaftliche Jahresarbeitszeit, hochgerechnet auf die Gesamtbevölkerung und unter Einbeziehung der Haushaltsarbeit, weist zwischen 1969 und 1987 eine Zunahme um 47 Stunden pro Kopf aus.

Das durchschnittliche Haushaltseinkommen liegt in Boulder über dem USA-Schnitt, was auf den Wohlstand der Stadt hinweist. Die Kehrseite des Reichtums aber äußert sich darin, daß ein Fünftel der Bevölkerung unter der Armutsgrenze lebt. Dabei ist die Arbeitslosenrate der Stadt relativ niedrig, sie liegt bei rund fünf Prozent – eine der Hauptursachen der Verarmung ist also im vielzitierten Job-Wunder zu suchen.

Mit einem Song über seine Erfahrungen mit dem Job-Wunder beendet Jackson sein Konzert. Der ehemalige Computerspezialist versuchte sich in verschiedenen Arbeiten. In der Filiale eines Freßkonzerns gab er einmal an fehlernährte Jugendliche Hamburger und Pommes aus – und wäre mit seinem Lohn beinahe selbst verhungert.

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