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Der Ostbonus ist aufgebraucht

Berliner Grüne wählten Sozialpolitikerin Andrea Fischer zur Spitzenkandidatin für die Bundestagswahl. Bürgerrechtlerin Birthler ohne sicheren Platz  ■ Aus Berlin Dorothee Winden

Es war eine starke Rede. Für Christian Ströbele ging es diesmal ums Ganze. Dem 58jährigen Rechtsanwalt war die Anspannung anzumerken, doch innerhalb von fünf Minuten brachte er den Saal zum Toben. Ströbele hatte als erster Redner des Tages Arbeitslosigkeit und Sozialabbau angeprangert und zog Parallelen zur Märzrevolution von 1848. Da sei es auch um eine gerechtere Steuerpolitik gegangen. „Die Revolutionäre von damals würden uns sagen: Ihr müßt auf die Straße gehen“, so Ströbele.

So ein Stichwort löst Reflexe aus. Ströbele aktivierte damit grüne Sehnsüchte und Erinnerungen an glorreichere Zeiten. Der 68er setzte ganz auf seine Rolle als Gründungsvater der Partei und Bewahrer linker Utopien. Selbst langjährige Parteiaktive waren überrascht, wie stark die Stimmung für Ströbele war. Im Realo- Lager hat Ströbele viele entschiedene Kritiker. Unvergessen sind seine unklugen Äußerungen vor dem Golfkrieg 1991. Damals sagte er: „Die irakischen Raketenangriffe sind die logische, fast zwingende Konsequenz der Politik Israels.“ Als ihm dieser Fehltritt am Samstag vorgehalten wurde, hagelte es jedoch Buhrufe für seine Kritiker.

Nach Ströbeles Rede war klar, daß ihm der zweite Listenplatz so gut wie sicher war – nicht zuletzt ein Akt ausgleichender Gerechtigkeit. Wegen der doppelten Frauen- und Ostquote hatte er bei der Nominierung 1994 keine Chance auf einen aussichtsreichen Listenplatz gehabt. Das Direktmandat im Wahlkreis Schöneberg/Kreuzberg, in dem er erneut antritt, verfehlte er damals nur knapp. Mit Ströbele, den beiden Bundestagsabgeordneten Andrea Fischer und Franziska Eichstädt-Bohlig sowie der Bürgerrechtlerin Marianne Birthler konnten die Berliner Grünen vier gute KandidatInnen für nur drei sichere Listenplätze aufbieten. Schon im Vorfeld hatte sich abgezeichnet, daß Birthler nicht damit rechnen konnte, mit dem Ostbonus auf dem dritten Listenplatz gewählt zu werden. „Darauf wird in dieser Partei völlig zu Recht keine Rücksicht mehr genommen“, sagte ein Parteimitglied aus dem Westen. Eine Haltung, die auch ein Großteil der Ostgrünen teilt. Im achten Jahr der Einheit zählt vor allem die Leistung, so die Botschaft der mit 585 Grünen gut besuchten Mitgliederversammlung.

Im Rennen um die Spitzenkandidatur galt die 37jährige Sozialpolitikerin Andrea Fischer als Favoritin. Sie hatte sich vor vier Jahren im Bundestag des völlig verwaisten Feldes Sozialpolitik angenommen. Mit 348 Stimmen lag sie deutlich vor Baupolitikerin Eichstädt-Bohlig (220 Stimmen), die noch vor vier Jahren als politische Quereinsteigerin die Landesliste angeführt hatte. Nachdem der zweite Listenplatz mit 327 Stimmen klar an Ströbele ging, traf Birthler auf Eichstädt-Bohlig. Die kompetente Baupolitikerin konnte sich mit 310 Stimmen deutlich gegen Birthler (218 Stimmen) durchsetzen. Für die sichtlich enttäuschte Birthler bleibt nur ein Trostpflaster: Sollten die Grünen bundesweit 9 Prozent und in Berlin 12,7 Prozent erzielen, dürfte auch der vierte Platz noch den Einzug in den Bundestag bedeuten. Wie ein Birthler-Unterstützer anmerkte, dürfte die schlechte Plazierung den grünen Wahlkampf in Ostberlin aber eher erschweren.

Siehe Seiten 12 und 13

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