: Innehalten, einmischen
Seit der russischen Belagerung 1996 engagieren sich Berliner Theaterkünstler für die demokratische Zukunft Tschetscheniens. Aufzeichnungen ■ von Peter Krüger
Der ZDF-Korrespondent Dirk Sager kommentiert mit zitternden Händen einen Raketenangriff russischer Hubschrauber auf das tschetschenische Dorf Perwomaiskoje. Verzweifelte Frauen und Kinder flüchten aus ihren Häusern... Was für ein schrecklicher Völkermord geschieht dort, aber in Deutschland sind wir so in unserer „Wichtigkeit“ befangen, du siehst die grauenhaften Fernsehbilder... und treibst weiter. Der erschütterte Dirk Sager brachte mich im August 1996 zum Innehalten. Ich mußte etwas für Tschetschenien tun.
Am 15. August 96 begannen wir im ehemaligen „Haus der russischen Offiziere“ Berlin-Karlshorst mit einer Ausstellung des Fotografen Detlev Steinberg „Der Kaukasische Teufelskreis“, bestürzende Bilder des total zerstörten Landes. Die ARD-Tagesthemen-Redaktion sendete aus Karlshorst und brachte Boris Wiechmann mit, der für Cap Anamur – Deutsche Notärzte e.V. elf Kriegsmonate lang in Grosny ausgeharrt und zusammen mit tschetschenischen Ärzten dafür gesorgt hatte, daß das zerstörte Kinderkrankenhaus Nr. 2 niemals mit der Arbeit aufhören mußte. Seine Erzählungen formulierten ständig den Vorwurf: Warum hält sich die EU aus dem Krieg der Russen gegen das nordkaukasische Volk heraus? Weshalb redet Kohl von seinem „Freund Jelzin“, dem Verantwortlichen für 100.000 getötete Zivilisten? – Gerade in der Zeit der Mordorgien wurden der russischen Nomenklatura bedingungslos die größten Kredite eingeräumt.
Schon am 1. September trafen wir uns wieder in Karlshorst: Berliner Künstler gegen den Völkermord in Tschetschenien. Alle wichtigen Bühnen waren mit Darstellern an unserer Aktion beteiligt. Wir lasen Texte zur Geschichte der Wainachen, dann Gedichte und Lieder. Tschetschenische Musiker waren dabei, Boris Wiechmann, Ekkehard Maaß und andere. Am 15. Oktober wiederholten wir in der „Schaubühne“ unser Programm. Hier wurde die nächste Aktion geboren: Berliner Künstler sammeln für das zerstörte Kinderkrankenhaus in Grosny. – Allein die Schaubühne trug 72.000 Mark bei, im Berliner Ensemble sammelte Annemone Haase, im Deutschen Theater Heidrun Perdelwitz, Petra Hartung oder Klaus Piontek. Der Chor der Staatsoper schickte Geld, die Kassenfrauen des Maxim-Gorki- Theaters und viele andere.
Ende Februar 1997 fuhr ich erstmals nach Tschetschenien. In Begleitung des deutschen Hilfswerks Hammer Forum e.V. wollten wir 16 kriegs- und minenverletzte Kinder in deutsche Krankenhäuser bringen. Ein Zwischenfall an der tschetschenisch-inguschischen Grenze verhinderte das Unternehmen. Es gelang lediglich, die elfjährige Lolita mit nach Deutschland zu nehmen. Ein russischer Anschlag hatte ihr das Gesicht und die Brust verbrannt (Lolita wurde unterdessen im St.-Lucas-Krankenhaus in Bünde sechsmal operiert und vorerst in ihre Heimatstadt Sernowodsk zurückgebracht).
Das Kinderkrankenhaus in Grosny benötigte dringend einen Operationstrakt und eine Reanimationsklinik. Nach Berlin zurückgekehrt, beschlossen wir, unsere Sammelaktion auf den Neubau dieser Einrichtung zu konzentrieren. Ende März war ich wieder in Grosny. Es ging darum, etwas gegen die Minenpest zu unternehmen. Mitten in der Stadt warnen überall Schilder vor von den Russen verlegten Minen. So ist es überall im Land. Die Pioniere besitzen 26 Handdetektoren zur Entschärfung. Wenn sie so weitermachen, hätten sie noch 30 Jahre zu tun, sagte mir ein Spezialist, und täglich werden Kinder verletzt oder getötet.
Mit dem „Hausierengehen“ gegen die Kriegsfolgen lernte ich die Mitleidlosigkeit und Egozentrik deutscher Fernsehchefs kennen und nicht etwa die der privaten Sender (nein, Sat.1 sendete ja wenigstens ein paar Minuten über die Minen-Katastrophe). Es waren die der öffentlich-rechtlichen Anstalten. Ungeprüft hatten die Redaktionschefs russische Nachrichtenagenturmeldungen verinnerlicht, die Tschetschenen zu Entführern, Mafiosi und islamischen Fundamentalisten abstempeln wollen.
Die Westeuropäer zogen nach dem Krieg ab, sunnitische Fanatiker aus Dubai und Saudi-Arabien kamen an. Scharfmacher versuchen im staatlichen Fernsehen, Extremismus einzubleuen. Was heißt das? Weg mit der „westlichen Lebensweise“. Frauen heraus aus den Berufen, her mit den Kopftüchern, öffentliche Auspeitschungen für Alkoholiker. Bis zu unserem nächsten Besuch im November fanden zwei öffentliche Hinrichtungen statt. Eine Ärztin beschimpfte mich: „Warum laßt ihr Westler uns jetzt im Stich? Wir gehören zu Europa. Warum stehlt ihr euch feige davon und überlaßt uns den Fanatikern? Es ist doch klar, die öffentliche Meinung wird stark von den Ausländern bestimmt. Wenn aus Europa nichts mehr kommt, ihr sogar die Propaganda der Russen übernehmt, was sollen wir machen? Wie können wir uns gegen den Extremismus wehren?“
Bei meinem Junibesuch sah ich erstmals Hakenkreuzaufkleber in Grosny, und der Chef des Sicherheitsdienstes begrüßte mich mit „Heil Hitler!“. Auf meine wütende Gegenwehr wurde mir geantwortet: „Hitler hat doch gegen die Russen gekämpft, und das ist gut, also muß der Nazismus auch gut gewesen sein...“
Eins war mir klar, wir mußten unbedingt mit einem Berliner Theatergastspiel versuchen, gegen die Alpträume der Isolation in Tschetschenien vorzugehen. Die Berliner Schaubühne war vor der Spielzeitpause sofort bereit, mit dem alten persischen Märchen „Die Sprache der Vögel“ nach Grosny zu fahren. Alles wurde verabredet. Das nötige Geld besorgte ich vom Auswärtigen Amt.
Ende August trafen wir uns wieder. Vor uns saß eine sorgenbeladene Andrea Breth, die unglaubliche Schwierigkeiten mit ihren Schauspielern hatte. Von einem Gastspiel im September wollte sie nichts mehr wissen. Kurz darauf trat sie als Künstlerische Leiterin zurück. Daraufhin sprang auch das Auswärtige Amt ab. Gerd Poppe von der Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen und die Heinrich-Böll- Stiftung halfen weiter.
Wir legten unser Gastspiel vom 12. bis 18. November 1997 fest. Als Mitstreiter verpflichtete ich alte Freunde aus gemeinsamen DDR- Theaterjahren. Von 1975 bis 1989 waren wir „durch die Lande gezogen“ und hatten versucht, unsere Idee von einem politischen Theater durchzusetzen. Die Stasi „belohnte“ uns dafür mit den „Operativen Vorgängen: Maske, Reform, Gaukler oder Schauspieler“. Ein ständiger Neuanfang... Jetzt, im Oktober 1997, war es nicht schwer, Regina Nitzsche, Eva Weber, Mathis Schrader, Michael Lauer und als Gast Ekkehard Maaß davon zu überzeugen, nach Tschetschenien zu fliegen. Gegen die Hitlernostalgie wählten wir eine Collage von Franz-Kafka-Texten und den Bericht der jüdisch-französischen Sängerin Fania Fénelon „Das Mädchenorchester in Auschwitz“ (verständlich gemacht auch durch viele Lieder)...
Die Visa-Beschaffung geriet zum Alptraum. Ständiges Umbuchen der Tickets, am 13.November früh traf das letzte Papier ein. In Moskau wurden wir den ganzen 14.Dezember auf dem Inlandflughafen Wnukowo festgehalten, „Nebel im Nordkaukasus“. Abends die Flugabsage. Am 15.Dezember flogen wir endlich los.
Stunden später saßen wir an der prächtigen Tafel im Großen Dramatischen Theater von Grosny. Vom Krieg zerstört, war die erste Handlung des Kulturministers und früheren Schauspielers Achmed Zakajew, in den hinteren Teil ein Kammertheater für 110 Personen einzubauen, mit Repräsentationsräumen. Ein paar Stunden später tanzten wir schon zusammen. Der unglaublich enge Zeitplan verdichtete die Erlebnisse zu einem wilden Film. Streng bewacht übernachteten wir im Gästehaus der Regierung. Nach einer bedrückenden Rundfahrt durch die zerstörte Stadt spielten uns die Kollegen ein Stück über den Krieg vor. Zuerst Bilder Grosnys vor dem Angriff. Eine Familie wird in die Kämpfe geworfen und geht zugrunde. Dann unser Gastspiel. Eine tschetschenische Schauspielerin sprach die Einführungstexte. Schon mit diesem Vorspiel bemerkten wir die unglaubliche Konzentration der Zuschauer. Unsere Arbeit über „Das Mädchenorchester in Auschwitz“ löste Rührung aus, und wir waren froh, etwas gegen die „Naziromantik“ unternommen zu haben (drei TV-Kameraleute zeichnten das Spiel auf, es wurde am nächsten Tag komplett gesendet). Der Umgang mit diesem wunderbaren Publikum war leicht für uns, sie verstehen alles. Nicht der große Beifall oder die Interviews und Autogramme elektrisierten uns, die anschließenden Fragen und Schilderungen verblüfften uns in der genauen Detailbeobachtung. Bei der anschließenden, nicht enden wollenden Feier kam von Achmed Zakajew der Vorschlag für ein Gegengastspiel in Berlin, mit Garcia Lorcas „Bluthochzeit“ und einem Folklorestück.
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