: Wenn Harry eine Cola holte
Vergeßt Basler: Entertainer Harry Wunstorf schockte mit Brando-Ästhetik Herberger und die Wirtschaftswunder-Republik – Autogramme gab er während des Spiels ■ Von Rainer Schäfer
Wenn er mit seinem Hund durch den Hamburger Stadtteil Rahlstedt schlendert, schauen sich die Passanten um: ein etwas extravaganter Herr mit einem Prachtkerl von weißem Pudel. Wenn er, wie jedesmal, bei einem Heimspiel des Zweitligisten FC St. Pauli auf der Tribüne sitzt, erkennen ihn nur wenige: ein Rentner mehr am Millerntor. Dabei war Harry Wunstorf (70) nicht nur einer der besten Torhüter der fünfziger Jahre, er war auch einer der ersten Showstars im Fußball.
Als der St.-Pauli-Keeper 1953 von Bundestrainer Sepp Herberger zum Lehrgang der Nationalmannschaft eingeladen wurde, staunte die Berliner Fußballpresse nicht schlecht. „Haben wir die Fähigkeiten dieses Mannes unterschätzt?“ Wunstorf hatte von 1947 bis 1951 zunächst im Ostsektor Berlins für Union Oberschöneweide, danach für Tennis Borussia und Wacker 04 im Tor gestanden.
Oder die Ersatzbank gedrückt.
Dort sollte er auch sitzen, als Union im Juli 1948 in der Endrunde um die Deutsche Meisterschaft im Berliner Olympiastadion den FC St. Pauli empfing. St. Pauli gewann 7:0, Wunstorf saß bei der GPU, der politischen Polizei der sowjetischen Militärverwaltung, im Keller beim Verhör. Weil er „Filme geschmuggelt hatte“.
Der Fußballer Wunstorf wurde erst auffällig, nachdem er im Sommer 1951 zum FC St. Pauli gewechselt war. Am Millerntor entwickelte er sich zu einem der besten deutschen Torhüter der fünfziger Jahre. „Wunstorf, Wunstorf und noch einmal Wunstorf, ohne deine Paraden wäre es heute schiefgegangen“ – die Laudatio der lokalen Medien erfolgte regelmäßig.
Aber Wunstorf war nicht nur ein Könner zwischen den Pfosten. Er verstand es, sich in Szene zu setzen. „Ein hervorragender Torwart, aber auch ein Flieger vor dem Herrn“, urteilt der ehemalige St. Paulianer Herbert Kühl. Zwei Schritte nach links gehen, um drei nach rechts fliegen zu können, das hatten die wenigsten Oberliga- Torhüter drauf. Eine „Schau, die fernsehreif war“, attestierte das Hamburger Abendblatt dem sprunghaft-aktiven Keeper, als dem Medium Mitte der fünfziger Jahre noch keine Bedeutung zukam.
Vor Wunstorf agierte Mittelläufer Otmar Sommerfeld. Der ordnete unermüdlich seine Hintermannschaft und avancierte dabei mit 362 Einsätzen fast unbemerkt zum Rekordspieler der Oberliga Nord – kantig und vor allem sachlich und schnörkellos, wie es in der höchsten Spielklasse üblich war. Der pragmatische Sommerfeld und der zur Selbstdarstellung neigende Wunstorf verliehen der St.-Pauli-Abwehr gemeinsam Halt, doch für ersteren war es nicht immer einfach.
„Ich spiel' den Ball aus 20 Metern aufs Tor zurück, auf einmal hör' ich ein Raunen im Publikum“, erinnert sich Sommerfeld, „der Ball läuft zum Tor, Harry steht neben dem Pfosten und will sich gerade eine Cola holen.“ Im letzten Moment flog Wunstorf auf das Leder. Die Vorhaltungen von Trainer Heinz Hempel konnten den Berliner nicht beeindrucken. „Wenn ick mal wat trinken will“, kommentierte der Keeper gelassen, der immer gerne aus der Reihe tanzte: Wenn 18 Mann Bier tranken, trank er Kaffee, wenn alle Kaffee tranken, bestellte er Cola.
Harry Wunstorf entsprach partout nicht der gängigen Kategorisierung der Fußballer in Leistungsträger und Mitläufer. Er war ein Unterhaltungskünstler, ein Showmann, er nahm eine Kategorie vorweg, die sich erst viel später im Fußball durchsetzte. Bei seinen waghalsigen Paraden und akrobatischen Hechtsprüngen zählten für den Draufgänger neben Effektivität auch Haltungsnoten.
Die Enge seines vorgesehenen Arbeitsraumes hinderte Wunstorf an der freien Selbstentfaltung. Wenn der Keeper daher den Strafraum hinter sich ließ und weite Ausflüge ins Weite des Fußballterrains unternahm, stockte nicht nur den eigenen Mitspielern der Atem. Bei seinen spektakulären Soli, Salti und Flugeinlagen vergaß er die vorherrschende und krude Herberger-Philosophie, in der elf Freunde sich zu disziplinieren und im Kollektiv zu stärken hatten.
Anstelle einer rigiden Systembetonung beharrte Wunstorf auf den Eigenarten und Macken des Einzelkönners – die die Stars der kommenden Fußballgenerationen stärker ausleben konnten. Der Narzißmus, dem der Mann im Torwart-Sweater frönte, wich außerhalb der Stadien einer ausgeprägten Gutmütigkeit und kumpelhaften Art.
Auf dem Spielfeld mit smart nach hinten gegeltem Haar und immer in möglichst engen Sporthosen, wußte sich der Fußballer auf St. Pauli auch außerhalb des Rasens zu inszenieren. Wunstorf, der eine Zeitlang als Privatchauffeur arbeitete, schätzte leistungsstarke Autos und elegante Mode. „Harry hat gerne auf großem Fuß gelebt. Wo er hinkam, war Leben“, meint Alfred „Ala“ Brüggen, ehemaliger Mittelfeldspieler des FC St. Pauli.
Mit einem Hauch von Marlon- Brando-Ästhetik korrespondiert der Lebemann Wunstorf allerdings nicht immer mit den Maximen der Solidarität und Wohlstandsvermehrung, die im Wirtschaftswunder-Deutschland der Nyltesthemden, Mottenkugeln und Avon-Beraterinnen richtungsweisend waren.
Daß der impulsive und unbekümmerte Wunstorf immer mal wieder mit dem despotischen Vereinspräsidenten Wilhelm Koch aneinandergeriet, nimmt nicht wunder. Koch führte den FC St. Pauli wie ein kühl denkender Hamburger Kaufmann nach dem Grundsatz der Kostenminimierung. Dabei sparte Koch selbst an den Chrysanthemen, die der Spielführer des Millerntor-Klubs vor dem Anpfiff seinem Gegenüber überreichen sollte. Manchmal waren die Blumensträuße so staubtrocken, daß sie schon auf dem Weg zur Mittellinie verpulverisierten.
Die Versuche Kochs, Wunstorf über die Kapitänsbinde stärker zu konventionalisieren, schlugen schon nach kurzer Zeit fehl. Zu unterschiedlich waren die Auffassungen und Lebensprinzipien, die da aufeinanderprallten. „Ich war der einzige, der vor dem Spiel noch seine Zigarette geraucht hat“, erzählt Wunstorf. „Der Koch hat immer gemeckert: Rauch nicht immer!“ Ohne Erfolg. Der Keeper inhalierte weiter und schrieb während des Spiels Autogramme für die Fans, die hinter seinem Tor standen. Wenn er sich nicht gerade Erfrischungsgetränke organisierte.
Wilhelm Koch verhinderte auch Wunstorfs Karriere in der Nationalmannschaft: St. Paulis Torhüter galt neben Toni Turek und Heinrich Kwiatkowski als Kandidat für die Weltmeisterschaft 1954 in der Schweiz. Als Wunstorf sein Können in der B-Nationalmannschaft unter Beweis stellen sollte, legte der mittelständische Lederwarenhändler Koch sein Veto ein: Wunstorf mußte in einem „pupsigen Pokalspiel“ gegen Hamborn 07 ran und kam nicht in den Genuß, als Held von Bern in die Fußballhistorie einzugehen.
Wer Herberger einmal absagte, sagte für immer ab. „Ich könnte mich noch heute grün und blau ärgern“, hadert er. Aber der charismatische und nie um einen Spruch verlegene Wunstorf wäre im Nationalteam wohl ohnehin nicht zum Zug gekommen: Herberger bevorzugte Spielertypen wie Turek, der die Torwartrolle schmucklos-funktionell ausfüllte und auch symbolisch für das Restaurative der Adenauer-Ära einstand.
Wunstorfs Karriere beendete – ein Streit mit Präsident Koch. Nach 13 Jahren Vereinszugehörigkeit verließ er den FC St. Pauli mitten in den Vorbereitungen zur Saison 1964/65.
Wilhelm Koch ist lange tot, Wunstorfs Zuneigung zum FC St. Pauli nach wie vor virulent. Und die Extravaganz der frühen Tage hat sich mittlerweile in den Bereich der Pudelzucht verlagert. Der preisgekrönte weiße Pudel zeugt davon. Sein Name: Golden Nurmi von der Bockhöh.
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