Heute beginnt der chinesische Volkskongreß, der den ebenso visionären wie pragmatischen Zhu Rongji zum Nachfolger des verhaßten Premierministers Li Peng bestellen soll: Macht er Ernst mit dem Anfang vom Ende des chinesischen Sozialismus? Aus Peking Georg Blume

Der Pekinger Kongreß auf dem Sprung

Selten war sich China mit der Welt so einig wie in der Beurteilung des designierten Pekinger Premierminsters Zhu Rongji: „Er erweckt bei mir den Eindruck, daß er bei der Arbeit kühn und entschlossen handelt“, sagt die Pekinger Stahlwerksangestellte Huang Xerong, 43, eine resolute Fabrikaufseherin in hellbraunem Overall. Als dynamisch, pragmatisch und direkt charakterisiert ihn Kurt Biedenkopf, der vor wenigen Tagen mit Zhu konferierte. „Er geht mehr Risiken ein als alle anderen chinesischen Führer“, behaupten westliche Diplomaten. „Ihn zeichnet aus, daß er die Wirtschaft wie seine Westentasche kennt“, rundet ein hoher Parteifunktionär das öffentliche Erscheinungsbild des 69jährigen Politmanagers ab, der China ab sofort in eine echte Marktwirtschaft verwandeln will.

Vielleicht wird es diesmal wirklich ernst mit dem Ende des chinesischen Sozialismus. Die politische Stimmung im Land deutet jedenfalls darauf hin. Nach Jahren der Desillusionierung infolge des Tiananmen-Massakers 1989 und den Zeiten der Unsicherheit nach dem Tod Deng Xiaopings 1997 schauen viele Chinesen erstmals wieder mit Interesse, wenn nicht gar Zuversicht nach Peking: Dort tagt ab heute der Nationale Volkskongreß, dessen wichtigste Aufgabe es sein wird, Zhu Rongji zum neuen Premierminister zu wählen.

Für chinesische Verhältnisse kommt diese Wahl einem politischen Zeitensprung gleich: Zurück tritt der verhaßte Premier Li Peng, der nicht nur das Tiananmen-Massaker verantwortete, sondern sich auch als gänzlich glückloser Wirtschaftsreformer erwies. Sein Nachfolger verkörpert zwar keine neue Generation, aber doch eine ganz andere Art, Politik zu machen: Offen, transparent und die Probleme stets beim Namen nennend, hat Zhu Rongji bislang agiert. Sein Führungsstil ist hart und kompromißlos, aber nie verschwiegen und unkenntlich. Popularität erreichte Zhu, als er in den letzten Jahren erfolgreich die Inflation bekämpfte. Zhus einfaches Versprechen lautet: Kompetenz statt Korruption.

Gleichzeitig sind viele Hoffnungen übertrieben: Der Premier wird nur erfolgreich sein, wenn das Volk mitzieht. Den meisten Chinesen aber ist die neue Selbständigkeit, die ihnen mit dem Rückzug des Staates aus der Wirtschaft aufgebürdet werden soll, völlig fremd. Millionen unbeschäftigter Arbeiter aus den Staatsbetrieben suchen schon heute verzweifelt nach einer neuen Lebensaufgabe. Oft fehlt es ihnen einfach an Phantasie für einen anderen Job. Ebenso ergeht es einem großen Teil der 560 Millionen Chinesen, nämlich den 80 Prozent aller Werktätigen, die heute noch in der Landwirtschaft tätig sind. Verlassen sie die eigene Scholle, riskieren sie Einkommen und Familieneinbindung. Denn für die Masse der ungenutzen Arbeitskraft hat auch der Zhu-Kapitalismus keinen schnellen Nutzen. Andererseits sehen selbst langgediente Arbeiterinnen wie Huang Xerong vom Pekinger Stahlwerk ein: „Weil das alte System nicht mehr funktioniert, muß man ein neues einführen.“

Der neue Premier will genau das. Mit allem, was er tut, signalisiert Zhu einen unerschütterlichen Glauben an die Marktwirtschaft. Von Partei und Sozialismus redet er kaum: „Wenn Sie zu schnell nach China kamen und bisher kein Geld verdienten, sollten Sie nicht mir die Schuld dafür geben“, macht Zhu ausländischen Investoren neuen Mut. Obwohl er nicht als Neoliberaler gilt, hält er sich mit der neuen Komplexität der Weltwirtschaft, die eine Modernisierung auf so hohem Niveau erfordert, daß selbst die besten chinesischen Betriebe unter die Räder kommen könnten, nicht weiter auf. Im staatskorrupten China zählt für Zhu nur der Sprung ins kalte Wasser der Konkurrenz.

Wie die Dinge in Zukunft laufen sollen, zeigt das Regierungsprogramm des obersten Wirtschaftsreformers. Von derzeit 60.000 Staatsunternehmen werden im Jahr 2000 gerade noch 600 Großkonzerne in staatlicher Hand bleiben. Nicht weniger ambitioniert ist die geplante Finanzreform, mit der staatliche Banken in die Eigenständigkeit entlassen werden.

Den eigentlichen Machtkampf aber ficht Zhu Rongji derzeit im Regierungszentrum aus: 4 Millionen (von 8 Millionen) Regierungsangestellte sollen entlassen, 12 von 41 Ministerien sollen zerschlagen, allein 100 Posten mit Ministerrang abgeschafft werden. Wie vom Himmel fällt die Bombe des Premierministers mitten in den Machtapparat: Von einer „gravierenden Reform“, die „einschneidender wirke als alles Vorherige“, spricht ein alter Parteifunktionär in düsterem Ton. Wie lange der große Umbau im Detail schon geplant ist, weiß niemand. Der Parteitag im vergangenen Herbst, so viel steht fest, brachte nur eine Richtungsentscheidung. Inzwischen hat die asiatische Finanz- und Wirtschaftskrise Peking gezwungen, das Reformtempo zu erhöhen. Nun aber ist die Entscheidung reif für den Volkskongreß: mit der anstehenden Wahl einer „schlanken“ Regierung und Zhu als Neugestalter und Konkursmanager in einer Person.

Doch die Reform kann auch zurückschlagen. Schon häufen sich Arbeiterproteste in den gebeutelten Provinzen. Verheerende Folgen hat etwa der industrielle Niedergang in den mandschurischen Nordprovinzen, wo nicht nur die Umweltverschmutzung, sondern auch die Arbeitslosenquote am höchsten liegt. Um so bedrückender für die Kommunisten, da sie ihre revolutionären Siege einst in Nordchina erfochten. Jetzt droht wieder eine Protestwelle von Norden – diesmal gegen die Partei.

Viel unbesorgter kann Peking gen Süden schauen: Shanghai, Hongkong und Kanton versprechen auch dann noch neue Welten, wenn vom Wirtschaftswunder niemand mehr redet. Kein Zufall, daß heute um Partei- und Staatschef Jiang Zemin die sogenannte Shanghai-Clique regiert. Welches bessere Vorbild als die bunte Boomtown am Yangtse-Delta läßt sich in China heute finden?

Und doch gehört Zhu Rongji, der einst als Bürgermeister von Shanghai brillierte, nicht zu jener inneren Clique um Parteichef Jiang. Das macht ihn angreifbar, ja sogar absetzbar und stärkt zugleich seine Glaubwürdigkeit. Wie sehr sich die Zeiten geändert haben, zeigt der Rollenvergleich mit dem legendären Premierminister Zhou Enlai, der heute am 5. März hundert Jahre alt geworden wäre. Zhou war wie der neue Premier ein Pragmatiker. Doch gegen Mao konnte er sich nie ernsthaft durchsetzen. Heute aber muß Zhu gleich beides liefern: die Vision samt einer pragmatischen Politik.