Aus Liebe zur Küche

Ob als Party-Tränke, zum Wäschekochen oder als geselliger Ort, geeignet zum Kitten verkorkster Zweierkisten: Die Küche hat bis heute nichts an Popularität eingebüßt  ■ Von Lennart Paul

Gestern abend extra noch den Schrank beiseite gewuchtet, Platz gemacht im Wohnzimmer, damit getanzt werden kann. Und dann das: Die Gäste kommen, kurven einmal flink durch alle Räume und landen am Buffet in der Küche. Dort stehen sie den ganzen Abend und die halbe Nacht, dicht gedrängt und zunehmend erhitzt. Um Mitternacht hocken sich schon die ersten auf den Küchenboden: bloß nicht in eins der anderen Zimmer gehen, wo lauter leere Stühle darauf warten, besessen zu werden. Als es zu eng wird, weichen einige mit langen Gesichtern auf den Flur aus. Wichtig aber bleibt, sich nicht weiter als fünf Schritte von der Küchentür zu entfernen. Schließlich hofft jeder auf die Chance, bald wieder ins Zentrum des Geschehens vorstoßen zu können.

Was macht bloß die Anziehungskraft der Küche aus, in der meist billiges PVC den Boden bedeckt? Wo sich nach einigen Stunden statt feinen Salaten und Mousse au Chocolat nur noch verdreckte Teller stapeln? Vielleicht tragen wir alle noch den Funken eines längst überwunden geglaubten Urinstinkts in uns, der sich seit der Zeit der Höhlenmenschen vererbt: Die besten Plätze sind nahe an der Feuerstelle, das weiß man insgeheim, dort gibt es Nahrung, dort friert man nicht, dort ist man sicher vor wilden Tieren. Schädlich wäre dieser Instinkt auf keinen Fall, obwohl sich auf heutigen Festen auch die Partylöwinnen und -löwen mit in die Küche zwängen und dort oft auf einen ganz anderen Beutezug gehen.

In jedem Fall zieht sich eine Linie durch die Menschheitsgeschichte, die von der offenen Feuerstelle direkt zu den Mikrowellen in heutigen Einbauküchen führt: Die Küche war und ist der zentrale Treffpunkt unserer Wohnstätten. Bei armen, kinderreichen Familien, denen das oft einzige Zimmer als Schlafstube dienen mußte, gab es am meisten Platz zum Essen und Reden in der Küche zwischen Kochstelle und Eßtisch. Häufig war sie auch der einzige Raum, in dem es im Winter halbwegs warm war. Wer Geld hatte, überließ die Küche seinem Personal und genoß es, weitab vom Herd zu leben. Doch in der Literatur, besonders in der des 19. Jahrhunderts, romantisieren Schriftsteller aus betuchten Elternhäusern die Küche. Mit wohligem Unterton berichten sie davon, wie sie sich am liebsten bei Magd, Knecht und Köchin aufhielten, die Gemeinschaft mit den Angestellten genossen – im Gegensatz zu den steifen Mahlzeiten mit der Familie im Eßzimmer.

Zu Beginn unseres Jahrhunderts kam Bewegung in die Küche – zumindest auf den Bildern des Schweden Carl Larsson. Seine Bücher über Heim und Familie prägen unsere Vorstellung vom skandinavischen Wohnstil bis heute. Und die Küche ist bei Larsson ein warmer, heller Raum, der mehr bietet als Arbeit. Hier läßt es sich leben, und jede Trennung zwischen Hausangestellten und Hausbesitzern scheint wie aufgehoben.

In Frankfurt versuchte man in den 20er Jahren, Küchenräume funktionaler zu gestalten. Wegeoptimierung war das Ziel, Skizzen zeichneten die unsichtbaren Spuren nach, die bei der Arbeit in der Küche zurückzulegen waren. Die daraus entstehende „Frankfurter Küche“ war im Gegensatz zu den Küchen in Gründerzeitbauten bedeutend kleiner. Und bis heute finden sich im sozialen Wohnungsbau genaue Maßvorgaben für Küchen, die eine optimale Funktion auch auf kleinem Raum gewährleisten sollen.

Architekten wie Hermann Muthesius probierten auch einen anderen Weg aus. Muthesius behielt die Bedeutung der Küche als sozialen Ort im Sinn und entwarf Häuser mit Gemeinschaftsküchen, bei denen beim Kochen die Hausgemeinschaft gefördert wurde. Die Idee setzte sich in den zwanziger Jahren nicht durch, vielleicht war Muthesius ja seiner Zeit einfach zu weit voraus. Denn in den sechziger Jahren wurde erneut an dem Leitspruch der bürgerlichen Welt gezweifelt: „My kitchen is my castle“ sollte nicht mehr gelten. Bis die ersten Kommunenküchen entstanden. Das war der Beginn einer Wiedergeburt der Küche als zentraler Ort. Denn für jede neu entstehende WG bleibt bis zum heutigen Tage die Frage entscheidend, wie groß die Küche der zu mietenden Wohnung ist. Nur eine riesige Altbauküche mit einem wuchtigen, möglichst runden Holztisch schafft es, unterschiedlichste Bewohner aus ihren Zimmern zu locken und zu einer Gemeinschaft zusammenzuschweißen. Denn auch wenn in der durchschnittlichen WG die meisten Probleme mit Küchenarbeit zu tun haben, werden doch mindestens genauso viele Schwierigkeiten in der Küche beseitigt. Wo sonst lassen sich Beziehungskisten bei einer Kiste Bier so angenehm ausdiskutieren?

Vielleicht ist es auch die WG- Erfahrung heutiger Häuslebauer, die jetzt die Küche in Reihen- und Fertighäusern verändert. Vor allem aber sorgt unsere Berufswelt dafür, daß die Küche sich allmählich auflöst. „Die Küche paßt sich an die gesellschaftlichen Verhältnisse an“, sagt Caroline Rasp vom Landesverband Berlin des Bundes Deutscher Architekten: Die Berufstätigkeit vieler Frauen lasse den abgetrennten Küchenraum überholt erscheinen.

Nun zeigt der Grundriß des innovativen Eigenheims endlich, daß die Zeiten der Hausfrauen mit ihrem „eigenen Reich“ rund um den Herd vorbei sind. In den neuen Häusern können große Schiebetüren zwischen Wohnzimmer und Küche geöffnet werden, so daß beide Räume ineinander übergehen. So kann man sich am Eßtisch weiterhin ein wenig in der Küche fühlen. Häufig ist, nach amerikanischem Vorbild, die Küche auch nur noch eine Schrankzeile an einer Seite des Wohnzimmers, mit starker Dunstabzugshaube und einem Tresen, der die traditionelle Eßecke ersetzt. Eine pädagogische Maßnahme, wie es scheint: Denn wer mag da schon in Ruhe fernsehen, während einer am Spülbecken mit dem Geschirr klappert oder die Spülmaschine röhrt?

Also endgültig verschwinden aus unserem Wohnumfeld wird die Küche ganz bestimmt nicht. Dafür fühlen wir uns dort viel zu wohl. Und außerdem: Wer könnte dann noch feststellen, welche Partygäste richtig hip sind? Schließlich macht auf jeder Fete der Spruch die Runde: „Wirklich coole Leute treffen sich in der Küche.“