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Touristische Gegenwelten neu entdeckt

■ „Voyage“, das Jahrbuch für Reise- und Tourismusforschung, auf der Suche nach einer fröhlichen Wissenschaft vom Reisen. Ein spannender Versuch und eine theoretische Fundgrube

Warum reisen?, fragt das Jahrbuch für Reise- und Tourismusforschung „Voyage“. Es will Theoretikern ein Forum bieten und „eine neue, eine fröhliche Wissenschaft vom Reisen begründen“.

Dazu wird erst einmal fröhlich provoziert. Es sei doch ein perfides Vorurteil, meint beispielsweise die Essayistin Cora Stephan, die „saisonalen touristischen Massenbewegungen mit imperialistischen Feldzügen gleichzusetzen“. Hätten wir denn je etwas besseres gehabt als diesen „friedlichsten Ersatz für allerhand tradierte Weisen, in größeren Menschenverbänden die Welt kennenzulernen“? Cora Stephan resümiert: „Wahrhaftig konservativ“ sei er, der Massentourismus, und „ökologisch, praktisch, gut... Gut, daß wir ihn haben.“

Aber das versteht sich ja von selbst: Umsatzmäßig ist Tourismus die weltweit größte Industrie nach Mineralöl- und Automobilbranche. Einer der Beiträge des Bandes beschäftigt sich ausgiebig damit. Der Tourismus verzeichnet Wachstumsraten, die jedem Banker feuchte Hände machen können. Zehn bis elf Prozent aller Erwerbstätigen dieser Welt gibt er Brot und Lohn. Er erwirtschaftet ein Zehntel des weltweiten Bruttosozialprodukts. Der Tourismus ist ein gigantisches Projekt ohne absehbares Wachstumsende. Ein Massenerfolg, der befriedet.

Mit der Einsicht, alle sind Touristen, irgendwie, scheint auch die Kritik am Big Business mit all seinen ökologischen und sozialen Folgen aus der Mode gekommen zu sein. Man arrangiert sich. Man zieht in die Welt, um ihre Schönheiten zu entdecken. Allenfalls gönnt man sich wie Stephan einen spielerischen Zynismus.

Gestandene, touristisch versierte Intellektuelle schicken sich in „Voyage“ an, den neuen Zeiten Rechnung zu tragen, und durchstreifen die Welt der Theorien auf der Suche nach einem Gerüst. Christoph Hennig, einer der Herausgeber, checkt theoretische Ansätze auf ihre Brauchbarkeit „für eine fröhliche Wissenschaft“ ab. Dabei entsorgt er vor allem Enzensbergers sogenannte „Fluchttheorie“ (puritanische Konzeption). Hennig erklärt: „Das Reisen gibt ... zumindest einen Abglanz jener ganzheitlichen Erfahrung, die einst in Festen und Ritualen möglich war.“ Und sein Fazit: „Vor allem suchen Touristen die sinnliche Erfahrung imaginärer Welten.“ Hier haben wir sie wieder, die positiv gewendete Fluchttheorie eines Enzensberger. Hennig hat die touristische Gegenwelt neu entdeckt. Unseren Spaß an Parallelwelten. Er beschreibt die Lust auf Entgrenzung und andere Erfahrungsräume.

Die gesellschaftlichen Bedingungen und Voraussetzungen des Tourismus sind in diesem Sonderwelten-Konzept aus dem Blickwinkel geraten. Daß Tourismus historisch jung ist, daß nur ein kleiner Teil der Menschheit reist, daß Reisen ein Konsumprodukt ist, daß dafür geworben wird, all dies hat bei dieser Betrachtung keine Bedeutung mehr. Wir zappen uns durch die Vielfalt der Parallelwelten. Und das macht Spaß. Tourismus wird hier als zeitlos schönes Bedürfnis dargestellt.

Doch der Band bietet auch viele soziologische Ansätze, die individuelles Verhalten mit gesellschaftlichen Bedingungen und brauchbaren Erklärungsmustern verknüpfen. Illustre Namen werden dazu zitiert. Von Bourdieu bis Baudrillard, von Goffman bis zur World-System-Theorie werden Klassiker vorgestellt. Bourdieu, dessen Theoriansatz dazu dient, das Verhalten von Touristen zu entschlüsseln, Baudrillard, der erklären kann, warum wir längst in der realitätsfernen Inszenierung künstlicher Welten angekommen sind. Vor allem der Beitrag von Heinz-Günter Vester ist wissenschaftlich hervorragendes Handwerk. Er setzt sich explizit mit der sozialwissenschaftlichen Theoriebildung auseinander: zum Beispiel mit Goffman, der die touristische Welt als Bühne ablichtet, oder Bourdieu, der das Wechselspiel von Mode und Motiv behandelt.

Es ist das besonderere Verdienst des Bandes, die Diskussion über Reisemotive auch hierzulande anzuzetteln. In Frankreich, vor allem aber in Großbritannien, ist diese Diskussion viel weiter entwickelt. „Voyage“ bringt diese Ansätze nun endlich auch in die hiesige Tourismusdebatte. An die Diskussion der letzten 20 Jahre mit Fragen zum ökologisch und sozialverträglichen Reisen knüpft einzig der Kulturwissenschaftler Dieter Kramer in einem kommentierenden Literaturbericht an.

Das Jahrbuch, erschienen im DuMont Verlag, ist ein spannender kosmopolitischer Versuch. Eine anregende Fundgrube und ein längst überfälliges Diskussionsforum zum Thema Tourismus. Ärgerlich ist nur ein penetranter Hang zur Entsorgung einer tourismuskritischen Vergangenheit. Christel Burghoff/Edith Kresta

„Voyage“. Jahrbuch für Reise- und Tourismusforschung 1997, Schwerpunktthema: Warum reisen? DuMont, 199 S., 39,90DM

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