Medizin für kranke Menschen – und nicht für kranke Organe

■ „Denken erlaubt“- eine parteiübergreifende Initiative präsentiert fachpolitische Konzepte als Angebot für den öffentlichen Streit / Teil 4: Gesundheitspolitik auf der Grundlage eines ganzheitliche Menschenbildes

Als sich die westlichen Mediziner im 19. Jahrhundert endgültig entschlossen, ihr Fach zur Naturwissenschaft zu erklären (zu diesem Zeitpunkt gab es noch keine Ärztinnen), war die Entscheidung für eine Medizin für geschädigte Organe, Gewebe und Zellen gefallen. Die ganzheitliche Sicht des kranken Menschen als biologisch-psychisches und soziales Individuum blieb dabei auf der Strecke. Das Modell, das die Physik zur Lösung technischer Probleme entwickelt hatte, wurde von der Medizin übernommen.

Auf der Grundlage der naturwissenschaftlichen Betrachtungsweise entstand ein beeindruckendes Gebäude der modernen Medizin, die den menschlichen Körper nach dem Modell einer hochdifferenzierten physikalisch-chemischen Maschine interpretiert. Danach ist Krankheit eine räumlich lokalisierbare Störung in einem technischen Betrieb. Der Betrieb ist zwar sehr komplex, und die einzelnen Bereiche sind eng miteinander verzahnt; aufgrund des technischen Vorbildes jedoch besitzt er eine überschaubare Struktur.

In diesem allgemeinen Modell lassen sich Diagnosen für bestimmte Krankheiten wie Verhaltensregeln für den Umgang mit Rohrbrüchen, Transportproblemen oder Kurzschlüssen ableiten. So ist es dem Arzt oder der Ärztin möglich, mit gezielten chirurgischen oder medikamentösen Eingriffen – wie ein Techniker, der auf der Basis eines Schaltplanes den Betriebsschaden für einen Fernseher finden und danach reparieren kann – das seine bzw. das ihre zu tun, um die Krankheit als technischen Defekt im menschlichen Körper zu reparieren.

Dieses Menschenbild, das den Menschen gleichsetzt mit einer Maschine, die im Krankheitsfall repariert wird, entspricht eher dem männlichen als dem weiblichen Denken. Am deutlichsten wird dies an den Krankenhausstrukturen, die nach wie vor durch und durch patriarchal sind. Die vermeintlich sachliche Sprache, die einheitliche und eher triste Ausstattung der Räume, die uniforme und wenig farbenfrohe Dienstkleidung, die meist untergeordneten Positionen von Mitarbeiterinnen, die Technikverliebtheit, das „Alles ist machbar“-Denken, die Skepsis gegenüber Beziehungsarbeit und Gefühlen (und das an einem Ort, wo sehr viel Leidvolles passiert!) – all das sind Phänomene im Krankenhaus, die eine männliche Handschrift tragen.

Unstrittig ist, daß die naturwissenschaftlich ausgerichtete Medizin, die sehr von den Entwicklungen und Innovationen der Pharmakologie und der Technik profitiert hat, beeindruckende Erfolge vorzuweisen hat. Wer hätte beispielsweise vor 20 Jahren gedacht, daß Frühgeborene mit einem Geburtsgewicht von unter 500 Gramm überleben und das zu frühe Geborensein in ihren späteren Lebensjahren ausgleichen würden? Oder daß Blutkrebs bei Kindern heute in drei von vier Fällen geheilt werden kann, während noch vor 40 Jahren kaum ein an Leukämie erkranktes Kind überlebte?

Die moderne apparatetechnische und pharmakologische Medizin ist aber auch an ihre Grenzen gekommen. Denn es reicht eben nicht, Frühgeborenen das reine Überleben zu sichern. Es muß vielmehr auch sichergestellt sein, daß der kleine Mensch in Kontakt mit seinen Eltern kommen kann, daß er deren körperliche Nähe, deren Zuspruch, ihren Geruch, ihre Liebe fühlen kann. Diese Zuwendung zum Gedeihen ist eine zutiefst menschliche Qualität, die weder durch Medikamente noch durch Maschinen ersetzt werden kann.

Spätestens seit Dr. Marina Marcovich ist die Bedeutung der Förderung dieser frühen Eltern-Kind-Beziehung auch bei uns bekannt. ÄrztInnen, die die Eltern-Kind-Beziehung als zweitrangig ansehen und sich primär auf die körperliche Situation des Frühgeborenen konzentrieren, handeln nicht ganzheitlich und blenden wichtige psychologische und psychodynamische Erkenntnisse aus. Die psychosomatische Medizin, die in Deutschland in den 60er Jahren von Viktor von Weizsäcker und Thure von Uexüll begründet wurde, möchte die Trennung von Seele und Körper aufheben. Sie hat ein Gesundheits- und Krankheitsverständnis, das auf der Ganzheit des Menschen beruht und von einem individuellen Bedingungsgefüge körperlicher, seelischer und sozialer Aspekte ausgeht. Ist einer dieser drei Bereiche gestört, so hat das Auswirkungen auf die beiden anderen.

Seelische und soziale Belastungen können zu psychosomatischen Störungen bis hin zur Organschädigung führen. Dabei ist den Erkrankten zunächst häufig nicht bewußt, daß ihre Beschwerden im Zusammenhang mit ihren psychischen oder sozialen Belastungen stehen. Psychosomatische Reaktionen, die sich in Form körperlicher Symptome äußern, haben immer Signalfunktion. Sie stehen für eine individuelle Überforderung. Wird dieser Überforderung nicht nachgegangen, werden die körperlichen Signale ausschließlich organmedizinisch behandelt, so besteht die Gefahr, daß die PatientInnen in eine diagnostische Mühle geraten, die zahlreiche vergebliche Behandlungsversuche nach sich zieht, das Wesentliche aber – nämlich den psychosomatischen Zusammenhang – außer acht läßt. Eine Chronifizierung aufgrund der einseitig organmedizinisch ausgerichteten Behandlung ist nicht selten die Folge.

Mit der Etablierung der Psychosomatik wurde erstmals ein Paradigmenwechsel in der westlich orientierten Medizin vorgenommen, allerdings nur von einem bestimmten Kreis von MedizinerInnen, die sich psychosomatisch fortbildeten. Das Gros der ÄrztInnen blieb dem alten Menschenbild treu, so als könne man Psyche und Soma tatsächlich voneinander trennen, so als sei es wirklich möglich, den Gegenstand von seinem Schatten zu lösen.

Wollen wir wegkommen von einer Medizin, die nur auf das kranke Organ, nicht aber auf den kranken Menschen sieht, so muß dieser Paradigmenwechsel radikal erfolgen. Und das bedeutet auch, sich von dem einseitigen Modell der Maschine zu verabschieden und anzuerkennen, daß der Mensch mehr ist als eine Sammlung anatomischer Tafeln.

Diese Wende, dieser Wechsel des Menschenbildes sollte von den ÄrztInnen selbst ausgehen. Sie sind die ExpertInnen für Krankheiten, sie reklamieren die Definitionsmacht darüber, wo Krankheit beginnt und wo sie aufhört. Dieser Prozeß setzt einen Paradigmenwechsel auch im ärztlichen Selbstverständnis voraus – der Weg vom wissenden Techniker zum beratenden Helfenden wäre vorgezeichnet.

Hier soll nicht einer Psychosomatik anstelle der Organmedizin das Wort geredet werden. Es geht vielmehr um einen erweiterten medizinischen Blick, um eine Betrachtung, die psycho-soziale Aspekte ein- und nicht ausschließt. Über eine in die Organmedizin integrierte psychosomatische Sicht zu verfügen, hieße vor allem, frühzeitiger als bisher Fehlbehandlungen und teilweise unnütze Diagnoseverfahren zu vermeiden. Was in erster Linie den PatientInnen zugute käme, in zweiter Linie der Soli-dargemeinschaft der Krankenversicherten, die weniger für mißlungene Behandlungsversuche bezahlen müßte.

Ganzheitlich orientierte

Gesundheitspolitik

Was würde sich ändern, wenn ÄrztInnen psycho-soziale Aspekte in ihre medizinische Arbeit integrierten und damit eine menschlichere Medizin praktizierten? Indem sie sich als Menschen zeigten, am Leben beteiligten, würde sich das Verhältnis zu ihren PatientInnen ändern. Eine Medizin, in der gesprochen und in Beziehung gegangen werden darf, in der aufmerksam und mit Interesse zugehört wird, fußt auf gegenseitigem Respekt vor dem jeweils spezifischen Wissen des anderen. ÄrztInnen müßten nicht mehr in dem Maße, wie es heute geschieht, vor das Wort die Medizintechnik und die Pharmazie setzen, sondern könnten durch gezieltes Nachfragen und aufmerksames körperliches Untersuchen – was in erster Linie den sensiblen Einsatz ihrer Sinnesorgane meint – in vielen Fällen eine sichere Diagnose stellen. Als Folge könnten sie vielfach auf teure und aufwendige Diagnoseverfahren verzichten.

Zugleich wäre es den MedizinerInnen möglich, ihre PatientInnen schneller als jetzt an FachkollegInnen und andere Berufsgruppen, wie beispielsweise PsychotherapeutInnen, ErnährungswissenschaftlerInnen, PhysiotherapeutInnen oder Hebammen, zur Mitbehandlung zu überweisen, weil sie sich der Begrenzheit ihrer eigenen Hilfsmöglichkeiten bewußter sind und den Anschein von ärztlicher Omnipotenz nicht vortäuschen müssen.

Auch auf der Seite der PatientInnen würden sich Veränderungen ergeben. Die in der bio-technisch ausgerichteten Medizin sozialisierten kranken Menschen haben gelernt, ihren Körper den ÄrztInnen zu überantworten und damit ihre Eigenverantwortung zu delegieren an die vermeintlichen SpezialistInnen. Diese Entfremdung vom eigenen Körper gilt es aufzuheben zugunsten einer achtsamen Körperlichkeit. Frauen und Männer können wieder lernen, ihren Körper und ihre Seele wahrzunehmen, beides zu pflegen. Sie können lernen, die Sprache ihres kranken Körpers in Form von Symptomen zu verstehen, um sich selbst helfen zu können oder sich geeignete Hilfen zu suchen.

Die eher partnerschaftliche Gestaltung des ÄrztInnen-PatientInnen-Verhältnisses würde auch den MedizinerInnen einen größeren Raum eröffnen, von ihrem ExpertInnenwissen an die PatientInnen etwas abzugeben. Verständliche Informationen über die Erkrankung, Hinweise zur eigenen Unterstützung des Heilungsprozesses oder vorsorgende Anregungen würden die Selbstheilungskräfte der PatientInnen stärken, ihre gesundheits- bzw. krankheitsbezogene Kompetenz fördern und sie die Eigenverantwortung für Körper und Seele wieder übernehmen lehren.

Ein Paradigmenwechsel in Richtung einer integrierten psychsomatischen Medizin hätte jedoch vor allem Konsequenzen für die politischen Strukturen in unserem Gesundheitssystem. Eine „sprechende“Medizin würde eine Reihe von technikintensiven und medikamentösen diagnostischen und therapeutischen Maßnahmen überflüssig werden lassen. Sie würde im Sinne einer interdisziplinären Zusammenarbeit die Beteiligung anderer Gesundheitsfachberufe in stärkerem Maße als bisher nach sich ziehen und damit die Qualität von Diagnostik und Therapie steigern, wenn nicht sogar den Ausbruch bestimmter Erkrankungen verhindern helfen.

Der geforderte Paradigmenwechsel würde gesundheitspolitisch eine wesentliche Veränderung mit sich bringen: Die Gleichbehandlung von psychischen und somatischen Erkrankungen, quasi eine Gleichstellung von „high tech“und „deep touch“. Für die Gesetzlichen Krankenkassen würde dies bedeuten, nicht mehr wie jetzt den „Reparaturbetrieb“in „Krankheitswerkstätten“zu finanzieren, sondern die „sprechende“Medizin, die biologisch-psycho-sozial verstehende Medizin zu würdigen. Das bedeutet in erster Linie, das Honorierungssystem für ärztliche Leistungen zugunsten einer Gleichstellung psychischer und somatischer Erkrankungsursachen zu verändern. Das umfassende diagnostische ärztliche Gespräch, die ausführliche Beratung zur Krankheitsbewältigung oder zu Fragen der Vorsorge würden finanziell genauso honoriert werden wie technikintensive Untersuchungen und Therapien.

Für nicht wenige ÄrztInnen, die jetzt durch den Einsatz modernster Technik viel abrechnen können, dürfte diese Gleichstellung mit finanziellen Einbußen verbunden sein. Doch sei an dieser Stelle die Frage erlaubt, ob bestimmte FachärztInnen immense Jahreseinkommen haben müssen und ob andererseits daraus die Verführung nicht doch sehr groß ist, die PatientInnen „vorsichtshalber“mit allen zur Verfügung stehenden Geräten und Verfahren zu untersuchen und zu behandeln.

Damit keine Mißverständnisse aufkommen: Hochleistungsmedizin wird in vielen Fällen weiterhin notwendig sein, um Krankheiten zu heilen und Menschenleben retten zu helfen. Es kommt allerdings auf einen maßvollen Einsatz dieser hochdifferenzierten und teuren Diagnose- und Therapieverfahren an. Und es kommt an auf einen erweiterten Blick darauf, den Menschen ganz als sozialen und emotionalen, als leiblich empfindenden und als sinnsuchenden wahrzunehmen, sich als Helfende in diesem Spektrum bewußt zu bewegen und in diesem Horizont den Dialog zwischen den Hilfesuchenden und den Helfenden zu führen.

Ruth Böke, Helga Loest