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Ein Podium für die Abweichenden

■ Skandalregisseur Christoph Schlingensief gründete die "Partei der letzten Chance". Wahlkampfzirkus zur Selbstdarstellung von Menschen. Politik und Kultur werden vermischt

Berlin (taz) – Der erste Wahlkampfauftritt verlief wie ein stinknormaler Politikerbesuch. Etwas beklommen tauschte Christoph Schlingensief Worte mit einem Betreuer der „Naunynritze“, einem sozio-kulturellen Zentrum in Berlins sozialem Brennpunkt Kreuzberg. „Ich bleib' sitzen, Alter. Hau wieder ab“, hielt ein 18jähriger Migrantensohn den Skandalregisseur auf Distanz. Schlingensiefs Begleiter, wie der BE-Schauspieler Martin Wuttke, standen mit ihren „Chance 2000“-Shirts herum wie nicht abgeholte Minister.

Die siebenjährige Cagla erhielt mitsamt ihrer Steptanzgruppe eine Einladung in den „Wahlkampfzirkus“. „Unser Theaterstück ist sehr offen“, sagte Schlingensief. Er überreichte einen Scheck über 250 Mark – die ersten Spenden, die auf dem Konto der Partei der letzten Chance eingingen. „Normalerweise kommen Politiker, um die Lösung eines Problems vorzuspielen“, sagte Schlingensief. „Wir geben den Leuten ein Podium.“

Am Abend hat sich dann gestern (nach Redaktionsschluß) die Partei der letzten Chance (PLC) gegründet. Kurz vor der Premiere des Stücks „Wahlkampfzirkus“ bildeten Christoph Schlingensief und eine illustre Unterstützertruppe eine Wahlkampfplattform für die PLC. Der umstrittene Regisseur („Deutsches Kettensägenmassaker“) überschreitet damit erstmals die Grenze vom Aktionstheater zur Politik. Die PLC will, sofern sich genug Unterstützer und Kandidaten finden, zur Bundestagswahl im Herbst antreten.

„Wir wollen das gesamte soziale Gefüge verändern“, sagte Carl Hegemann, einer der Ideengeber des Projekts. Die PLC wolle anders sein als die etablierten Parteien, zu denen neben CDU und SPD ausdrücklich auch Bündnisgrüne und PDS gezählt werden. Der Unterschied liege im Verwischen allgemein anerkannter Grenzen. „Wir lassen uns nicht auf die Trennung von Kunst und Politik ein“, sagte Hegemann. Ob die gestrige Aktion letztlich eine „Parteigründung mit theatralischen Elementen“ oder „politisches Theater“ gewesen sein werde, müsse auch er abwarten. Neben dem Skandalregisseur und dem Dramaturgen Carl Hegemann unterstützen die TV- Moderatoren Harald Schmidt und Alfred Biolek die Aktion. Auch der Modedesigner Joop und Volksbühnen-Intendant Frank Castorf haben sich auf die Unterstützerliste setzen lassen.

Zweck der Partei wird die „Unterstützung von Minderheiten unserer Gesellschaft bei ihrer Integration und Selbstdarstellung sein“, heißt es im Satzungsentwurf. Satzungsschreiber Hegemann sagte: „Wir wollen ein Forum schaffen für alles, was rumdumpft und rumgrummelt.“ Dazu zählen für ihn zunächst Arbeitslose, im übrigen aber alle „Abweichenden“. Laut Flugblatt wendet sich die PLC an „6 Millionen Arbeitslose, 9 Millionen Behinderte und zig Millionen, die zwar da sind, aber nirgends vorkommen“.

In seiner künstlerischen Arbeit wollte Schlingensief schon immer mit gutem Beispiel vorangehen. Ganz selbstverständlich treten bei ihm behinderte und nichtbehinderte Amateure neben Schauspielstars wie Martin Wuttke auf. Durch die Betonung des Unprofessionellen und gezielte Entgleisungen ist Schlingensief als Moderator seiner Theatershows an der Volksbühne auch selbst zum Star geworden: als Anwalt des Authentischen in einer rundum durchfunktionalisierten Welt.

In Produktionen wie „100 Jahre CDU“ oder „Kühnen 94“ hat Christoph Schlingensief, der erst seit fünf Jahren Theater macht, von Anfang an politische Bilder attackiert. Als er im Sommer 1996 nach einer Volksbühnen-Vorstellung von „Rocky Dutschke“ Teile des Publikums quer durch Berlin führte, um im Prater rituell eine Kanzlerpuppe zu verbrennen, wurde sein konkretes Volks- und Mitmachtheater selbst zum Politikum. cif/peko

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