: Altersfeststellung medizinisch umstritten
■ Das Altersgutachten, in dessen Folge Jasmin O. in U-Haft genommen wurde, wird von der Leiterin der Jugendradiologie angezweifelt. Abweichungen bis zu zwei Jahren seien möglich. Handwurzeluntersuch
Nach dem medizinischen Gutachten über das Alter des jugendlichen Delinquenten Jasmin O. wurden die angewandten Methoden zur Altersbestimmung von Fachleuten scharf kritisiert. Weder eine Röntgenuntersuchung des Handwurzelknochens noch die zahnärztliche Untersuchung können eine sichere Auskunft über das tatsächliche Alter geben, heißt es unter Medizinern. Aufgrund des Gutachtens, das die Justiz in Auftrag gegeben hatte, war Jasmin O. in Untersuchungshaft genommen worden.
Gegenüber der taz erklärte die Leiterin der Pädriatrischen Radiologie an der Charité, Professorin Brigitte Stöver, daß sich die für die Skelettreifebestimmung verwendeten Tabellen auf Untersuchungen mitteleuropäischer und nordamerikanischer Mittelstandskinder, also Kinder aus guten sozio- ökonomischen Verhältnissen, beziehen. Sie seien auf Kinder aus dem südeuropäischen Raum nicht anwendbar. Die Ergebnisse der Untersuchungen können laut Stöver um plus/minus zwei Jahre variieren. Die Strafmündigkeit Jasmins wäre also zweifelhaft.
Damit erneuerte Stöver ihre Kritik an dem Verfahren. Bereits 1995 hatte die Medizinerin in einem Gutachten geschrieben: „Die Skelettreifung sagt lediglich etwas aus über die Reifung des Organismus, die, sowohl ethnisch als auch sozioökonomisch bedingt, sehr unterschiedlich verlaufen kann.“ Dieses Gutachten hatte damit wesentlich zur ablehnenden Haltung der Deutschen Ärztekammer beigetragen, die das Röntgenverfahren sowohl aus ethisch-moralischen als auch aus methodischen Gründen kritisierte.
Am 24. März wurde Jasmins linke Hand in der Charité von Prof. Reisinger, stellvertretender Direktor des Instituts für Röntgendiagnostik, untersucht. Laut Gutachten weist die Handwurzel die „Reifekriterien einer 14 bis 15 Jahre alten mänlichen Person auf“. Prof. Reisinger wollte aufgrund des schwebenden Verfahrens keine Angaben zur Sache machen.
Brigitte Stöver, die erst über die taz von der Anwendung der umstrittenen Methode erfahren hatte, will nun wissen, warum sie nicht in das Verfahren einbezogen worden sei, obwohl sie an der Charité für Kinder und Jugendliche zuständig ist. Dies konnte sie sich nicht erklären.
Aber auch die Ergebnisse der Gebißentwicklung, die ergeben hatten, daß Jasmin O. zwischen 15 und 16 Jahre alt ist, sind nicht unumstritten. Wie aus Fachkreisen verlautete, bestehe auch bei dieser Untersuchung ein Unsicherheitsfaktor, der dem der Handwurzeluntersuchung „nicht unähnlich“ sei.
Unterdessen kritisierte Ellis Huber, der Vorsitzende der Berliner Ärztekammer, die Altersuntersuchung als Körperverleztung, da sie nicht mit dem Einverständnis des Patienten und zu dessen Wohl geschehe. Die Medizin müsse sich entscheiden, ob sie Anwalt des Individuums oder Anwalt des Staates sein wolle, so Huber. Peter Kasza
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