: Unterricht in Containern hinterm Zaun
Mit rigiden Einlaßkontrollen und kulturellen Begegnungen versucht die Otto-Hahn-Gesamtschule in Neukölln „schulfremder“ Gewalt vorzubeugen. Doch Sprachlosigkeit und Monotonie des Umfeldes prägen auch den Schulalltag ■ Von Julia Naumann
Einfach nur gelacht hat Ernst-Günter Freder. Als er in der vergangenen Woche erfuhr, daß in der Zehlendorfer Leistikow-Hauptschule eine Hundertschaft der Polizei die Schulranzen der Siebt- und Achtkläßler nach Waffen und Drogen durchsucht hat, konnte er es kaum glauben. Ausgerechnet in Zehlendorf! Die Polizei in die Schule zu schicken, ist für den Schulleiter der Otto-Hahn-Gesamtschule in Neukölln nämlich nur das „allerletzte Mittel“.
Doch auch in seiner Schule hat Freder, der seit 25 Jahren Rektor ist, mittlerweile drastische Maßnahmen eingeleitet. Nach mehreren tätlichen Angriffen von „schulfremden“ Personen auf SchülerInnen und LehrerInnen war für ihn „das Maß endgültig voll“. So traten drei arbeitslose Jugendliche einen Schüler in der Pause dermaßen zusammen, daß er ins Krankenhaus mußte. Das war bereits der dritte krasse Vorfall in kurzer Zeit. Daher ist seit zwei Monaten die Eingangstür der Schule verriegelt – wer rein oder raus möchte, muß sie aufschließen lassen. Vor Schulbeginn und in den Pausen steht jetzt immer mindestens ein Lehrer mit Schlüssel am Gitter. Wer zu spät oder zwischendurch kommt, hat ganz einfach Pech gehabt.
Das gesamte Schulgelände ist von einem Zaun umschlossen – das war schon immer so –, doch jetzt müssen die Kids in der Pause am Zaun stehen, um sich mit „Schulfremden“ unterhalten zu können. Das sind meistens Bekannte oder FreundInnen aus dem Kiez, oft harmlos, aber öfters auch martialisch bestückt, mit Kampfhunden und Autos mit abgedunkelten Scheiben und laufendem Motor. Für die Lehrer bedeutet die neue Regelung mehr Übersichtlichkeit in den Pausen – denn immerhin besuchen rund 1.000 SchülerInnen die Gesamtschule.
Das Gelände ist dennoch unübersichtlich, denn die Schule besteht nicht aus einem einzigen Gebäude, sondern aus einer Vielzahl von weißen Containern, so wie sie üblicherweise auf Baustellen aufgestellt werden. 1991 mußten die SchülerInnen und LehrerInnen der Otto-Hahn-Schule, die früher an der Buschkrugallee ihren Standort hatte, wegen Asbestverseuchung einige hundert Meter in die Haarlemer Straße inmitten eines Industriegebietes ziehen. Und dort stehen die provisorischen Klassenzimmer auch heute noch, denn der Bezirk gab das Geld für einen Neubau dann doch lieber für ein Gymnasium aus. 50 Prozent der Schüler sind nichtdeutscher Abstammung aus ingesamt 25 Nationen. Der Einzugsbereich reicht bis in die Neuköllner Altstadt rund um die Karl-Marx- und Hermannstraße.
Die sieben Jahre Provisorium haben deutliche Spuren hinterlassen: Die engen, schmutzigweißen Gänge sind entweder mit Tags vollgeschrieben oder einfach nur kahl. Dort hängen schwarze Glaskästen mit Zetteln, auf denen Namen von „Schulfremden“ stehen, die von der Schule Hausverbot erteilt bekommen haben. Die Türen der Schulräume sind vielfach aus rohem Holz, Ersatz für die, die bereits eingetreten worden sind. Die Zweigstelle der Stadtbücherei auf dem Schulgelände ist geschlossen, in der Schulmensa gibt es statt warmen Mittagessen nur noch pappige Brötchen mit Bulette und Schokoriegel, einen Turnhallenwart gibt es nicht mehr, seine Stelle ist eingespart worden.
Auch die Kids finden ihre Schule nicht besonders anziehend. „Hier ist es Scheiße“, sagt Marvin schlicht und springt auf, um eine Billardkugel ins Loch zu jagen. Das Zimmer für den außerunterrichtlichen Bereich ist noch einer der wenigen recht gut ausgestatteten Räume. Der 13jährige weiß nicht recht, was er von der abgeschlossenen Schule halten soll. Einerseits fühle auch er sich „bedroht“ von den Älteren, andererseits sei es jetzt „wie im Knast“. Seine beiden Klassenkameradinnen Inga und Esra sind ähnlich ambivalent: „Alle, die Gewalt anwenden, müssen raus“, meint Esra bestimmt. Doch Inga findet „auf Fresse hauen“ auch irgendwie cool. Ob sie selber schon mal jemanden geschlagen oder eine Jacke abgezogen haben, darüber schweigen die drei jedoch beharrlich. Aber sie kennen genügend Bekannte, Kumpels, ältere Freunde, die das machen. Neulich, so erzählt Marvin grinsend, habe er in der Wutzkyallee einen Jungen gesehen, der vollkommen nackt nach Hause rannte: Ihm wurden die gesamten Klamotten – im wahrsten Sinne des Wortes – abgezogen. Die drei, die alle in die 7. Klasse gehen, haben deshalb „Beschützer“ aus höheren Klassen. Die „helfen“, wenn es mal wieder Stunk gibt.
Genauso wie vor vier Wochen: Marvin, Inga und Esra hatten mit ihrer Klasse eine Woche lang an einem Kunst -und Kulturprojekt teilgenommen – Hellersdorfer treffen Neuköllner Kids, und gemeinsam entwickelten sie eine Show mit Tanz, Musik und Kunst. Doch bereits am zweiten Vormittag kam es zum Clash. Weil die Neuköllner einen Jungen aus Hellersdorf als „Ossi“ anlaberten, schlug ein Hellersdorfer Marvin beim gemeinsamen Frühstück schnurstracks eine Flasche über den Kopf. Platzwunde, Geschrei, Rache: Marvin mobilisierte seine Beschützer, die bei der Abschlußveranstaltung den Hellersdorfer „kaltmachen sollten“. Dazu kam es dann nicht, weil die Lehrer der jeweiligen Gruppen dann ihre Kids beschützten. Trotz des Vorfalls ist Lehrer Norbert Böhnke mit den Ergebnissen des Projekts zufrieden. „Die Woche bringt zwar keine unmittelbare Einstellungsveränderung“, glaubt der 45jährige, „aber die Kids werden noch lange daran denken.“ Denn endlich konnten sie einmal etwas völlig Eigenständiges produzieren – den Beat für die musikalische Begleitung auf dem Drum-Computer, großformatige Fotos als Kulisse und einen durchaus passablen Modern Dance als Haupt-Act. Die Kids waren von ihrem Werk so begeistert, das sie es gleich zweimal freiwillig in einer Kiezdisco aufführten.
Wenigstens ein Highlight in dem sonst recht tristen und durch Sparmaßnahmen reglementierten Schulalltag. Inga, Marvin und Esra finden die Gewalt an ihrer Schule zwar irgendwie auch „Scheiße“, sehen aber die Ursachen nicht nur bei den SchülerInnen, sondern auch bei den Lehrkräften, die Anlässe für Aggressionen provozierten. „Ich sollte neulich den Tisch und den Stuhl meiner Lehrerin putzen“, sagt Marvin empört. Er habe sich wie ein Sklave gefühlt und nach seiner Weigerung prompt eine Strafarbeit aufgebrummt bekommen. Die 13jährige Esra möchte, daß die LehrerInnen mehr zuhören, sich Mühe im Unterricht geben. „Ich würde ihnen echt gerne mehr Privates erzählen“, sagt sie.
Auch Norbert Böhnke, der erst seit sechs Jahren an der Otto- Hahn-Schule ist und früher offene Jugendarbeit machte, hat beobachtet, daß viele LehrerInnen „mittlerweile auf dem Zahnfleisch“ gingen. Die ständige Arbeitsüberlastung wegen des Lehrermangels plus fehlende Motivation desillusioniere viele Lehrkräfte, die im übrigen mehrheitlich überaltert seien. „Auch ich weiß manchmal nicht weiter, wenn ich ein Diktat korrigieren muß, wo bei 100 Wörtern 71 falschgeschrieben sind“, sagt Böhnke dann auch etwas resigniert.
Alle negativen Facetten des Neuköllner Kiezes würden sich in der Otto-Hahn-Gesamtschule wiederspiegeln: Gewalt, Sprachlosigkeit, die Monotonie des Alltags. Deshalb findet der Lehrer auch, daß verschlossene Türen ein falsches Signal sind. Er gibt zwar zu, daß es sich dadurch auf dem Schulhof etwas beruhigt habe, aber: „Man kann eine Schule nicht vor der Gewalt abschließen.“ Doch Böhnkes Alternativvorschlag wirkt auch eher hilflos: Er könnte sich einen Pförtner vorstellen, der am Eingang über die BesucherInnen wacht. Böhnke fordert umfassende Beratungsangebote für Eltern und Schüler, die mit den Institutionen des Bezirks wie dem Sozialamt und Erziehungsberatungsstellen vernetzt werden. Auch möchte er etwas für die Identität der Schule tun. Sie könne beispielsweise am Karneval der Kulturen teilnehmen.
Die Vorschläge des Rektors, der übrigens nur noch halb in der Schule arbeitet und sonst Lehreraustausch in die USA organisiert, sind nicht so umfassend: Ernst- Günter Freder kann sich vorstellen, in der Mittelstufe mehr Deutsch-Intensivkurse für die SchülerInnen nichtdeutscher Abstammung anzubieten, denn „die Sprachlosigkeit ist das Schlimmste“. Dafür müßten jedoch Kurse wie Arbeitslehre, Kunst und Musik wegfallen. Auch fordert er eine Psychotherapeutin für Individualgespräche. Doch das Schloß im Tor sei erst einmal ein guter Anfang, sagt er und guckt zufrieden.
Doch längst ist Freder überlistet: Denn es gibt bereits einige „Schulfremde“, die sich trotz des zugeschlossenen Tores in den Pausen wieder regelmäßig in der Raucherecke aufhalten. Sie haben ganz einfach ein großes Loch in den Zaun gerissen.
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