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Der Sympathieträger

Nett sieht er aus, rank und schlank ist er. Smart und eloquent wirbt er für ein neues Migrantenimage. Cem Özdemir, grüner Bundestagsabgeordneter, repräsentiert die zweite Einwanderungsgeneration. Ein Porträt  ■ von Martin Greve

Neugierig um sich blickend tritt Cem Özdemir hinaus in die weite Vorhalle des Hamburger Flughafens. Ordentlich und nett sieht er aus, hoch aufgeschossen, mit dunkler Hose, darüber ein elegantes, aber unauffälliges Sakko. Höflich gibt er dem ihm unbekannten Journalisten die Hand. Und los geht es zum Taxistand. Nein, halt: Erst zum Geldautomaten. Oder Moment, nicht immer einfach losstürmen: Wo und wann soll überhaupt dieser Vortrag heute Abend stattfinden?

Özdemir kramt in seiner riesigen Aktentasche. „Eigentlich hätte ich ja im Flug meine Unterlagen durcharbeiten müssen“, räumt er ein. „Aber ich habe lieber Zeitungen gelesen.“ Immerhin ein gutes Dutzend Tageszeitungen hat er jeden Morgen vor sich, die großen Überregionalen, drei kleinere aus seinem Wahlkreis, dazu vier aus der Türkei.

Es ist noch Zeit. In drei Stunden soll Özdemir zur Eröffnung der Tagung „Sucht in unserer multikulturellen Gesellschaft“ sprechen. Die Abschiebung von süchtigen Jugendlichen der zweiten Generation wird er dann „Verbannung“ nennen und angesichts ausländerfeindlicher Gewalt in Ostdeutschland sein Recht auf körperliche Unversehrtheit einfordern. „Ja, Donnerwetter, Herr Özdemir!“ wird am Ende seiner Rede die Moderatorin ausrufen. „Das war aber keine leichte Kost!“

Mühsam quält sich das Taxi durch den dichten Berufsverkehr, unterwegs zu einem vegetarischen Restaurant in der Innenstadt. „Im Flugzeug gab es wieder nur Fleisch“, klagt Özdemir. „Bei meinen Dauerreisen rät mir mein Arzt, notfalls ruhig auch mal Fisch zu essen.“ Er kneift die Augenbrauen zusammen und erklärt: „Bei mir hat da mittlerweile ein Denkprozeß eingesetzt, aber der wird wohl noch einige Jahre dauern.“ Längst hat die schwäbische Frohnatur von einst auch die Rolle des Talkshowredners erlernt. Selbst seine Memoiren hat der 32jährige mittlerweile veröffentlicht.

Endlich sitzen wir im Restaurant. „Bei offiziellen Auftritten muß das immer sein...“, entschuldigt sich Özdemir und verschwindet auf die Toilette, um eine Kornblumenkrawatte umzubinden. „Es ist immer so ein Wechselbad“, erzählt er dann. „An einem Tag Auftritt vor 30.000 begeisterten Aleviten im Müngersdorfer Fußballstadion, dann wieder einfacher Abgeordneter im Bundestag.“ Dazwischen Interviews, Reisestreß und noch mehr Interviews. „Ein Leben ganz ohne Politik kann ich mir kaum vorstellen.“

Die politische Laufbahn Özdemirs begann Anfang der achtziger Jahre mit der Gründung des grünen Ortsverbandes im schwäbischen Bad Urach. Es folgte der Kreisvorstand Reutlingen und 1989 der Landesvorstand Baden-Württemberg. Eine Zeitlang hätten ihn die Fundis um Jutta Ditfurth fast in die SPD getrieben.

1990 trat Özdemir für die Grünen in Esslingen – erfolglos – als Direktkandidat für den Bundestag an, und im Oktober 1994 gelang dem gerade 29jährigen als erstem türkischstämmigem Deutschen der Einzug in den Bundestag.

Die türkische Reinigungsfrau des Restaurants ist mit strahlenden Augen an unseren Tisch getreten: „So eine Überraschung“, ruft sie auf türkisch. „Dich habe ich ja noch nie hier gesehen...?!“

„Für die zweite Generation bin ich ihr Repräsentant“, meint Özdemir nach kurzem Plausch mit der Unbekannten. „Aber für die erste Generation bin ich ihr Sohn, der es zu etwas gebracht hat.“ Trotz Termindrucks ist das Einzelkind Cem oft noch zu Besuch bei seinen Eltern, und kaum eine Rede, in der er nicht wenigstens am Rande von ihnen erzählt.

Damals, vor dreißig Jahren in der schwäbischen Provinz, gab es nur wenige nichtdeutsche Kinder. Seine Eltern sprachen türkisch. Cem Özdemir wuchs auf mit Bay City Rollers, The Who und Bob Marley und wurde früh zum Ökoaktivisten. Mit acht Jahren Klassensprecher, später Schülersprecher, Verkauf von Dritte-Welt-Waren an seiner Schule. Erst als Student begann Özdemir ernsthaft türkisch zu lernen. Abschied von der Ökologie als Zentrum seiner politischen Wahrnehmung nahm er spät. Es war die Zeit von Mölln, Solingen und Hoyerswerder.

Gemeinsam mit seinem Freund und Politcoach Ozan Ceyhun und anderen gründet Özdemir 1992 die Yesiller (türkisch für „Grüne“), bald darauf Immi-Grün. Plötzlich tauchten Vorwürfe auf, er, der seine türkische Staatsbürgerschaft längst aufgegeben hatte, sei Lobbyist der türkischen Regierung. „Unser Sieg“ titelte das türkische Blatt Hürriyet nach seiner Wahl.

Als Özdemir allerdings öffentlich nicht nur den Terror der PKK, sondern auch die Menschenrechtsverletzungen in der Türkei anklagte, schlug der Tonfall türkischer Zeitungskommentare um: Mit Unterstellungen von Homosexualität oder PKK- Nähe versuchte insbesondere Hürriyet, den vermeintlichen Landesverräter zu diskreditieren.

Der Jungpolitiker drohte zwischen Vorwürfen und Verdächtigungen zerrieben zu werden. „In Sachen Türkei bin ich anfänglich auf mancher Bananenschale ausgerutscht.“ Mittlerweile haben sich die Fronten beruhigt, verschiedenste Migrantenorganisationen reißen sich um Özdemir. Den Türken gilt er als einer der ihren, manchen Kurden als Kurde. Sunnitischer Muslime ist er tatsächlich und besonders verstanden fühlt er sich von den Aleviten: „Als ich 1995 beim alevitischen Kulturfestival in Heilbronn auftrat, war es wie Liebe auf den ersten Blick: Da waren Zehntausende, die genauso denken wie ich.“

Aus Erfahrung klug hält sich Özdemir aus internen Auseinandersetzungen in der deutschtürkischen Gemeinde heraus und fordert allenfalls stärkere Positionen für die zweite Generation: „Es sollten mehr Jugendliche und vor allem nichtdeutsche Jugendliche Politik machen – und dafür sich einbürgern lassen! Den Nichtdeutschen versuche ich zu sagen: Das ist unsere Gesellschaft. Ob ihr es so gewollt habt oder nicht. Dank uns, der zweiten Generation. Von den Deutschen erwarte ich nur, daß sie Interesse haben. Sie müssen nicht alles richtig finden, aber verstehen, daß andere Menschen mit anderen Lebensentwürfen ihre Berechtigung haben.“ Plötzlich ist es fünf vor fünf, und in wenigen Minuten soll Özdemirs Vortrag beginnen. Wir springen auf. „Wenn ich sitze und rede, vergesse ich immer, auf die Uhr zu sehen“, meint Özdemir im Laufen. Wieder ins Taxi. Wo sind die Unterlagen?

„Ich kann keine schriftlichen Vorträge halten“, erzählt er weiter. „Es ist nicht mein Naturell.“ Dann findet er das Manuskript seines Mitarbeiters. Ob er es gelesen hat? „Nein“, gesteht er verlegen.

Im riesigen Saal des Hamburger Congreßzentrums, vorne in der ersten Reihe, sitzt etwas verloren der Abgeordnete Özdemir und senkt den Kopf über seinem Redetext. Auch heute wird er wohl wieder überwiegend frei sprechen. Schwungvoll tritt Cem Özdemir ans Rednerpult. „Wenn Herr Kanther Recht hätte“, schwäbelt er los, „und Deutschland wäre kein Einwanderungsland, dann gäbe es mich nicht. Dann wäre ich eine virtuelle Erscheinung: Meine Eltern haben sich in Deutschland kennen- und liebengelernt. Aber, wie sie sehen, bin ich nicht virtuell.“

Sein schwäbischer Akzent allerdings, der ist vielleicht doch ein wenig virtuell: Noch vor wenigen Minuten im Taxi hat er Hochdeutsch gesprochen.

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