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This is just a love song

Anfang der achtziger Jahre versprach Helmut Kohl die geistig-moralische Wende; der Werteverfall ward entdeckt. Und seit sich die gesamtdeutsche Jugend nach der Wiedervereinigung bereit erklärte, keine Perspektiven mehr zu sehen, scheint die Zeit reif, antiautoritäre Erziehungskonzepte zu bekämpfen. – Die harte Hand bringt uns keinen Schritt weiter, meint  ■ Barbara Junge

Als ich etwa fünf Jahre alt war, mußte ich über drei Wochen hinweg regelmäßig einen mit Salz und Kaffeepulver vergifteten Milchreis essen. Meine Mutter lag nichtsahnend im Krankenhaus, und die bestellte Familienpflegerin hatte im tiefen Schwaben noch nichts von antiautoritärer Erziehung gehört. „Ein bißchen Zwang, auch beim Essen“, so die resolute Dame, „hat noch niemandem geschadet.“

Als ich elf war, pflegte unser Biologielehrer mit Kreidestückchen auf uns zu zielen. Einmal traf es meinen Freund Lehmi im Gesicht. Der Lehrer unterrichtete die Jungs auch im Sport – und warf entsprechend scharf. Zur Strafe, daß Lehmi vor Schmerz aufheulte, mußte er sich mit hochrotem Gesicht auf die Schulbank stellen und die Stunde über dort ausharren. Der Biologielehrer hatte seine „pädagogische“ Ausbildung sicher vor 68 genossen.

Mit vierzehn schlug ich zum ersten Mal zurück. Unter lauthals gebrülltem Protest meinerseits versohlte mein Vater zwei meiner Schwestern; sie hatten heimlich mit Wunderkerzen gezündelt. Um Sanni und Biggi beizubringen, daß Zündeln gefährlich ist, griff mein sonst sehr liebevoller Vater auf die Erziehungsmethoden seiner Mutter zurück – und schlug zu. Und als ich zu laut dagegen brüllte, fand er es sehr amüsant, mich gleich mitzuverhauen.

Noch bis ich das Abitur machte zwang mich mein Vater, allmorgendlich ein Stückchen Brot oder ein paar Löffel Cornflakes herunterzuwürgen. Zu meinem Besten, davon war er überzeugt, und ich glaube es ihm heute. Doch wären meine Schwestern nicht gewesen, die heimlich meine Portion mitaßen, hätte ich wahrscheinlich tagtäglich ein vergnügliches Stelldichein auf der Toilette gefeiert.

Heute bin ich dreißig Jahre alt, hasse zwar Kaffee und verweigere nach wie vor das Frühstück, bin aber durchaus gelegentlich in der Lage, freiwillig und mit Genuß zu essen. Manchmal traue ich mich sogar, älteren Menschen zu widersprechen. Nur wenn ich sehe, daß jemand geschlagen wird, drehe ich gelegentlich durch. Mein sonst recht ordentlich funktionierendes Gehirn setzt einfach aus. Nein, autoritäre Erziehung hat noch niemandem geschadet.

Das muß auch der Grund sein, weshalb konservative IdeologInnen heute engagiert am Rad der Geschichte drehen. Um die Errungenschaften der autoritären Erziehung zurückzugewinnen: Weil sie schließlich nicht geschadet habe. Quasi ursprünglich kristallisiert sich im Gegenzug die antiautoritäre Erziehung als Quelle allen Übels heraus. Der Werteverfall in der Erziehung, so heißt das neue Erfolgsrezept, muß gestoppt werden.

„Wir haben uns nach dem Krieg über alles Eßbare gefreut“ – mit dieser traditionsorientierten Erfolgsdevise haben Millionen von Eltern auf die moderne Zerreißprobe junger Mädchen zwischen alten Rollenklischees und neuen Anforderungen reagiert. Mit dem Ergebnis, daß heute an die Hälfte der jungen Frauen unter Eßstörungen leidet. Erschrecken geht durch die Gesellschaft angesichts der Häufung von Sexualverbrechen an kleinen Kindern – und Hilflosigkeit. Gewalt auf der Straße wird zum Thema Nummer eins – neben der Jugendarbeitslosigkeit. Und schuld an allem, so vernehmen wir seit Beginn der neunziger Jahre, schuld daran sind die 68er. Als „systematische Zerstörungsarbeit an der Jugend“ faßte der nordrhein- westfälische Fraktionschef der CDU, Helmut Lissen, einmal das konservative Verdikt über die „antiautoritäre Erziehung“ zusammen.

Wenn der Unterricht, besonders an Schulen in sozialen Brennpunkten, heute nur noch zum Überlebenskampf für LehrerInnen wird – dann sind die 68er schuld. Wenn die vielzitierten „orientierungslosen Jugendlichen“ einen Ausländer oder Behinderten verprügeln, wenn ein undeutsch-unästhetischer Punk reglos auf der Strecke bleibt – dann sind die 68er schuld.

Bekanntermaßen hat 1968 eher in Ungarn oder in Prag stattgefunden als in der DDR. So war die antiautoritäre Erziehung denn auch nicht Kernbestandteil des realexistierenden deutschen Sozialismus. Doch wenn Glatzen in Magdeburg Ausländer jagen, wenn erschreckend junge Scheitelträger Brandenburg „ausländerfrei“ machen, dann fehlt die harte Hand.

Da zeigt man sich unbeeindruckt von Fakten: Bereits 1993 entzog eine Studie des Bundesfrauenministeriums der Kohlschen Lieblingsthese von der Schuld der 68er an der rechtsradikalen Gewalt jegliche Basis. Antiautoritäre Erziehung, so das Ergebnis der Untersuchung, hat keinen Einfluß auf die Gewaltbereitschaft. Vielmehr, so faßte der wissenschaftliche Leiter, Helmut Willens, zusammen, zeige sich in der herkömmlichen Erziehung eine Vernachlässigung und Verwahrlosung.

Dany Cohn-Bendit, Europaabgeordneter der Bündnisgrünen und Vorzeige-68er, bringt die schräge Debatte der neunziger Jahre auf den Punkt. „Ein aktuelles Beispiel ist der Versuch, die Debatte über den Rechtsradikalismus an 68 festzumachen: Ist die antiautoritäre Erziehung mitschuld am Skinhead-Terror? Diese Fragestellung ist so absurd wie die Frage, ob Adenauer mitschuld an der Unfähigkeit Europas ist, den Krieg im ehemaligen Jugoslawien zu stoppen.“

„Wenn jemand gegen einen Baum fährt“, sagt mein antiautoritär erzogener Freund, „ist es mir egal, ob er autoritär oder antiautoritär erzogen ist.“ „Wenn die Betreuerin in unserem Kinderladen mal wieder zu spät kam und ich mit meiner Mutter frierend vor der Tür warten mußte“, so der Kinderladen-erfahrene Berliner, „dann hat sie da was verwechselt.“ Antiautoritäre Erziehung wird heute gern mit Verwahrlosung gleichgesetzt. Ging es nicht ursprünglich darum, Kinder zu Verantwortung zu erziehen? Verantwortung für die eigenen Kinder zu übernehmen, anstatt die Verantwortung bei staatlichen Institutionen an der Pforte abzugeben wie eine Steuererklärung?

In Erinnerung an ihre eigene Kinderladenzeit fragt eine taz-Kollegin: „Was heißt denn antiautoritär. Meine Mutter war nie ideologisch antiautoritär, aber sie hat wegen ihrer eigenen strengen Erziehung darauf bestanden, daß ich die Freiheit habe, selbst zu lernen und Erfahrungen zu machen.“ Ihr Kinderladen wurde damals geschlossen – aus hygienischen Gründen. Die Kinder hatten, antiautoritär wie sie waren, permanent in die Ecke gekackt.

Nicht nur Konservative verwechseln großzügig die Begriffe. Auch die Linke war mit den beliebigsten Vorstellungen im Kopf angetreten, die ihre armen Kinder dann umzusetzen gezwungen wurden: Die Verklemmung der Eltern mußten die Kinder mit permanenter Nackheit und oft erzwungen frühem Bewußtsein über Sex bezahlen. Doch stammen auch noch heute die wenigsten Sexualmörder aus alternativen Kinderläden. Auch die Ratlosigkeit über ihre Eltern-Rolle übertrug sich oft auf die Kinder, von denen sich viele nicht auf ihre Eltern verlassen konnten. Doch noch immer spielt sich Gewalt unter Jugendlichen weniger im intellektuellen Milieu antiautoritärer Eltern ab, als in sozial weniger privilegierten Szenerien. Der Spiegel hat vergangenes Jahr den Berliner Arbeiterstadtteil Neukölln als Inbegriff der Gewalt im Alltag entdeckt. 68er stellen hier gewiß nicht die Bevölkerungsmehrheit.

„Wir haben sicher die Zukunft verklärt“, urteilt Cohn-Bendit über den antiautoritären Aufbruch, „aber wir trauten uns zu, die Zukunft in den Griff zu kriegen.“ Aus Angst, dabei Fehler gemacht zu haben, weben Linke heute gemeinsam mit Konservativen an der Rückkehr zu Sicherheit und ordentlichen Verhältnissen – auch in der Erziehung. Nur: Wer autoritär mit Selbstbewußtsein und Verantwortung gleichsetzt, ist mit einem antiautoritären Konzept sowieso schon gescheitert.

Noch heute höre ich mir die Schreckensgeschichten meiner antiautoritär geschulten FreundInnen mit Faszination an: Wie darüber diskutiert wurde, wer an einem Streit eigentlich Schuld war. Und wie ungerecht manchmal die Entscheidung ausfiel, weil sich doch der Stärkere durchsetzen konnte. Sportlich betrachtet, meine ich, dennoch eine faire Chance. Im Kindergarten war das stets einfacher: Ohne Diskussion durften beide Streithähne in der Ecke stehen.

Übrigens sind die Eltern meines Freundes keine 68er. „Ihre Erziehung nannten sie auch nicht antiautoritär, sie haben ganz pragmatisch das Beste rausgesucht von den neuen Ideen. Ich bin ziehmlich gut damit gefahren“, konstatiert er. Sicher, auch aus mir ist noch etwas geworden, halte ich dagegen. Nur – auf manche Erfahrung hätte ich sehr gern verzichtet.

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