Wie ich wirklich als Mensch fühle

■ Wenn die Anlässe fotografiert zu werden schwinden: Peter Hendricks notwendiger Fotoband über drogensüchtige junge Frauen

Als Coco Chanel 1953, nach fünfzehnjähriger Pause, ein zweites Mal daran ging, die Frauenmode dieses Jahrhunderts zu revolutionieren, bezog die 70jährige ihren Stoff – und damit ist nicht der zum Kleidermachen gemeint – aus der Schweiz. Regelmäßig setzte sie sich abends ihren Schuß, sie arbeitete wie besessen und war kerngesund, bis sie im hohen Alter von 88 Jahren starb.

Es gibt verschiedene Möglichkeiten, als Drogenabhängiger zu leben. An der Droge selbst liegt es nicht, wenn die Abhängigen und Süchtigen so schlechte Karten haben klarzukommen, wie es der Band „Sehsüchtig Sehnsüchtig. Fotos Hendricks, Tagebuch Teschi“ zeigt. „Dieses Buch habe ich gekauft, und soll nur für mich dasein. Hier werde ich mich frei schreiben.“ So steht es in Teschis Tagebuch, unter dem Datum des 16. 4. Sie führt es mit enormer Energie und bewunderungswürdiger Regelmäßigkeit, bis zum 31.8. Es wird deutlich, daß ihr viel daran liegt, sich über ihr Leben zu vergewissern. „Nur so kann man herrausfinden, wie der Mensch ist. Mich interessiert einfach, wie ich Wirklich als Mensch Denke und Fühle.“ Ihr Tagebuch ist Teschis Vermächtnis an den Hamburger Fotografen Peter Hendricks, es ist die Legitimation seiner Bilder.

Denn zur Vergewisserung über das eigene Lebens gehört heute auch das Bild. Ohne Foto weiß man nicht, wo man steht. Ohne Foto ist man dokumentenlos, „sans papiers“, ein Niemand, ein Nichts, illegal, ohne Aufenthaltsrecht in der Gesellschaft. Doch wenn die Wunden, die man sich im Leben zugezogen hat, so sichtbar sind wie bei Teschi und den anderen drogensüchtigen jungen Frauen, die ihr Geld als Prostituierte verdienen, dann verschwinden die Anlässe, fotografiert zu werden. Dann wird man unsichtbar, und dann macht man sich unsichtbar.

Um nun auf die Idee zu kommen, Teschi und anderen drogenabhängigen Frauen wieder ein Gesicht und eine Stimme zu geben, muß man wohl wissen, wie sehr diesen Frauen ihre Unsichtbarkeit zu schaffen macht. Doris Klinck, die von 1992 bis 1996 als Sozialpädagogin das Café Sperrgebiet, eine Einrichtung des Diakonischen Werks in Hamburg, leitete, hat davon gewußt. Und in Peter Hendricks fand sie den Mitstreiter, um das Projekt der von ihr imaginierten Dokumentation zu realisieren.

Hendricks hat keine schönen Bilder, aber gute Fotografien gemacht. Er zeigt die Gesichter der Frauen, Schönheit ist in ihnen zu finden und Härte, Abwesenheit. Die Aktaufnahmen offenbaren den körperlichen Verfall, Abszesse, offene Wunden und eine Unzahl von Narben; die Detailaufnahmen, die Blässe der Haut, die Tätowierung an einer Brust. Er fotografiert auch den Zettel, der am Zeh hängt, im Leichenschauhaus. Vielleicht ist es sogar Teschi, die da liegt. Sie starb, so sagt eine kurze Notiz, 1996. Schonung, Betroffenheit im sentimentalen Sinn kennt Hendricks jedenfalls nicht. Bei zwei oder drei Porträts hätte er nicht so nah heran gemußt. Die Kamerasicht bekommt plötzlich einen symbolischen Mehrwert, der gar nicht notwendig ist. Das gilt auch für die Beibehaltung von Teschis Rechtschreibfehlern, ihre Berichtigung hätte der Authentizität ihrer Sprache keinen Abbruch getan. Denn eigentlich geht es doch darum: Mit dem Buchprojekt gibt es für die Frauen wieder einen Anlaß, zu Wort zu kommen und fotografiert zu werden, wie es der Mensch, von dem Teschi spricht, gewohnt ist. Brigitte Werneburg

„Sehsüchtig Sehnsüchtig“. Steidl Verlag, Göttingen 1998, 48 DM