Kanzlers Abschiedsrede

■ Wie wird man dem selbstgesetzten Superlativ einer als „historisch“ angekündigten Parlamentsdebatte gerecht, wenn sich die Kontrahenten zum Thema doch alle einig sind? Der Kanzler macht sich selbst überflüssig und verabschiedet sich mit Dank an die Vorgänger – seinen großen Abgang aber hat er gestern endgültig verpaßt. Und die Opposition? Die Sozialdemokraten bekräftigen ihre entschiedene Ambivalenz zum Euro. Joschka Fischer verlangt, die europäische Integration überzeugend voranzutreiben.

„Ich danke meinen Vorgängern, ich danke Konrad Adenauer und Ludwig Erhard, aber auch Willy Brandt und Helmut Schmidt für ihren Anteil an der europäischen Einigung.“ Spätestens als der noch amtierende Bundeskanzler Helmut Kohl hier angelangt war, war auch dem letzten Beobachter klar: Hier hält jemand seine Abschiedsrede, hier bemüht sich ein Mann um sein eigenes Denkmal, hier wird der Schlußstein gesetzt in der Ahnenreihe bundesrepublikanischer Kanzler.

Erst jetzt, mit der Einführung des Euro, ist nach Kohls Verständnis auch die deutsche Einheit abgeschlossen, ist die europäische Integration unumkehrbahr, sind die Lehren aus der deutschen Geschichte gezogen. „Kein anderes Land in Europa hat mehr Gründe für den Bau des europäischen Hauses als wir. Wir haben die meisten Nachbarn in Europa, und viele dort erinnern sich noch aus eigenem Erleben an bittere Erfahrungen mit den Deutschen.“ „Wenn der Satz, den wir 1989 noch zu hören bekamen – zweimal haben wir sie geschlagen, jetzt sind sie wieder da –, nun wirklich Geschichte ist, dann ist das der größte Erfolg deutscher Politik.“ Der historische Tag gerät Kohl zum Paradox: Mit dem Euro beginnt eine neue Zeit, und sein eigener Erfolg macht ihn zu einer Figur von gestern. Wahrscheinlich hat er das auch gespürt.

Helmut Kohl redet gedämpft, unaggressiv, fast schon melancholisch. An vielen Punkten hätte er Zustimmung verdient. Doch das Plenum reagiert betreten. Die Union kann mit diesem Auftritt nicht glücklich sein. Sie erhält keine Gelegenheit, die desolate eigene Verfassung an einem kämpferischen Kanzler aufzurichten. Der Auftritt ist mit der Absicht, durch die Verabschiedung des Euro endlich einen Highlight im Wahlkampf zu setzen, nicht vereinbar.

Es ist ein Blick zurück, bei dem ihm auch die Opposition die Anerkennung nicht verweigert hätte, wenn dort am Pult der scheidende Kanzler und nicht ein angeschlagener Wahlkämpfer stünde. Gestern hat Helmut Kohl einen großen Abgang endgültig verpaßt. Die Zustimmung, die er weit über die Parteigrenzen hinaus für sein beharrliches Eintreten für die europäische Integration hat, die Zustimmung für seine Lehren aus der deutschen Geschichte, diese Zustimmung hat er sich durch seinen Entschluß, noch einmal anzutreten, selbst vorenthalten.

Genscher, der im Gegensatz zu Kohl gestern auch offiziell seinen Abschied nahm, behauptete in seiner Rede, der Euro sei nicht der Preis für die Vergangenheit, sondern eine Option an die Zukunft. Obwohl das offiziell so sein soll, hat sich Kohl nicht gescheut, auch an diesem Punkt der Wahrheit die Ehre zu geben.

Natürlich ist Europa, wie die Nato auch, ein Projekt, um die Deutschen unter Kontrolle zu halten. Kohl machte keinen Hehl daraus, daß er dafür Verständnis hat. Natürlich war Zeitpunkt und Umfang der Währungsunion keine monetäre, sondern eine politische Entscheidung – zuallererst eine deutsche Konzession an Mitterrand und die anderen europäischen Nachbarn zur Linderung der Ängste vor einem wiedervereinigten „deutschen Reich“. Das Kohl die Einführung einer gemeinsamen europäischen Währung auch aus eigener Einsicht betrieben hat, ändert daran nichts. Kohl hat ein europäisches Bewußtsein, das hat er gestern noch einmal bewiesen. Er persönlich hätte offenbar weit mehr Konzessionen an die Nachbarn gemacht, als seine Partei es zugelassen hat.

Noch heute wundert Kohl sich, daß Frankreich und die anderen es letztlich akzeptiert haben, daß die Europäische Zentralbank nach Frankfurt kommt und sich damit auch die Kultur der deutschen Stabilitätspolitik durchgesetzt hat. „Das ist doch eine enorme Referenz an die Deutschen, das müssen sie doch verstehen“, beschwor er die Mitglieder des Deutschen Bundestages. Doch außer dem Pflichtbeifall aus der eigenen Fraktion ist für Kohl an diesem Tag nichts zu holen.

Dabei wirkt der Kanzler, als könne er nicht verstehen, warum ihm die anderen die Anerkennung verweigern. Denn dies ist doch sein historischer Tag. Kohl erinnert an den Sommer 1948 und die Einführung der D-Mark. „Auch damals waren die Gurus der Geldwirtschaft voller Zweifel, und schon wenige Jahre später konnte sich niemand mehr vorstellen, wie es ohne die D-Mark war.“ „Das“, prophezeit er, „wird mit dem Euro auch so sein.“ Für Kohl, darauf weist er immer wieder hin, ist der Euro mehr als „ein Zahlungsmittel“. Es ist der Katalysator für die zukünftige politische Union Europa. „Gerade aus der deutschen Geschichte des 19. Jahrhunderts wissen wir doch, daß ein gemeinsamer Währungsraum zuletzt auch eine gemeinsame politische Union nach sich ziehen wird.“

Kohl ist kein Währungspolitiker und versucht, an diesem Tag auch keiner zu sein. Details interessieren ihn nicht, Einwände, wie den nach einer Harmonisierung der Steuern in Europa, verweist er an seinen Finanzminister, denn er ist tatsächlich und aufrichtig davon überzeugt, daß Europa kein Terrain für Geschäftemacher, sondern eine Frage von Krieg oder Frieden ist. Deshalb will er die Aufnahme Osteuropas in die EU, und deshalb ereifert er sich über Besserwisser aus allen politischen Lagern, die beispielsweise mit dem Finger auf Italien weisen, statt zu honorieren, „welche enorme Anstrengungen die italienische Regierung mit breiter Unterstützung der Bevölkerung unternommen hat. Das verdient Respekt.“

Wenn am 2. Mai in Brüssel der Startschuß für die europäische Währungsunion in elf Ländern fällt, ist Kohl am Ziel. Es ist schon fast komisch, daß ein Mann mit seinem politischen Instinkt das nicht selbst gemerkt hat. Was jetzt kommt, ist nicht mehr seine Sache. Achtzehn Millionen Arbeitslose innerhalb dieser Währungsunion – das ist ein Problem des zukünftigen Alltags Europas und hoffentlich kein Problem von Krieg oder Frieden. Deshalb sagt Kohl auch nichts mehr dazu. Für die zukünftige Gestaltung Europas hat er keinen Sinn und keine Vorstellung mehr. Ohne es zu wollen, hat er mit seinem gestrigen Auftritt die Parole der Opposition bestätigt: Danke, Helmut, das war's. Jürgen Gottschlich, Bonn