Wir lassen lesen
: Mythen einer teilweise unbekannten Welt

■ Die 25. Ausgabe der Zeitschrift „Zibaldone“ ist Italiens Fußball gewidmet

Der Stapel der Prä-WM- Lektüre wächst unaufhörlich, und dazu tragen jetzt auch die wissenschaftlichen Mitarbeiter und Professoren hiesiger Romanistik-Institute bei. Die 25. Ausgabe von Zibaldone, einer halbjährlich erscheinenden Zeitschrift für italienische Kultur, deren Mitarbeiter überwiegend aus universitären Kreisen stammen, dreht sich um Fußball. Und obwohl viele der Autoren auf ihrem diesmaligen Schwerpunktgebiet kaum in Erscheinung getreten sind, liefern sie anregende Einblicke in die Mythen und Besonderheiten einer teilweise unbekannten Welt.

Fürs erste Highlight sorgt ein ausgewiesener Experte: Gian Paolo Ormezzano, eine 63jährige Legende des italienischen Sportjournalismus, liefert eine pointierte Kritik seiner Branche. Die veröffentlichte Meinung zu einem Spiel, so der Veteran, basiere auf den Verabredungen, die die Reporter während der 90 Minuten untereinander treffen: „Wenn man auf der Pressetribüne die Journalisten in schalldichte Kabinen einschließen würde, dann gäbe es keinerlei Übereinstimmung, nicht einmal über das Spielsystem ..., nicht einmal darüber, wer Libero ist ..., vorausgesetzt es gibt überhaupt einen...“

Ein weiteres Medienthema beackert Eva Sabine Kuntz. Sie untersucht die Deutschlandbilder, die die italienische Presse im Zuge des bundesdeutschen WM-Erfolges 1954 verbreitete. Nicht nur La Stampa befand damals, die deutschen Spieler hätten agiert wie eine „kleine militärische Abteilung auf dem Exerzierplatz“. Vielmehr waren in allen Zeitungen solche Stereotypen und Anklänge an die Vergangenheit zu finden. Darüber hinaus vergleicht Kuntz die Deutschlandberichterstattung in den Politikressorts vor und nach der WM. Ergebnis: Vor dem 3:2 von Bern galt Adenauer als besonnener Politiker, unmittelbar darauf, als die Deutschen dummerweise wieder wer waren, jedoch als unberechenbar und undiplomatisch.

Besonders ergiebig sind in dieser Zibaldone-Ausgabe die Beiträge zum Spektrum Fußball und Literatur – nicht zuletzt, weil sie von einem künstlerischen Reichtum künden, der hierzulande unerreichbar scheint. Ein Zyklus mit Fußballgedichten, verfaßt vom 1957 verstorbenen Schriftsteller Umberto Saba, ist ebenso abgedruckt wie ein Auszug aus Andrea Carraros Roman „L'Erba cattiva“, in dem schließlich ein Sohn seinen Vater umbringt, weil der ihm die Fußballkarriere verbaut. Einen Gesamtüberblick über Fußball in Italiens Gegenwartsliteratur liefert Herausgeber Titus Heydenreich, ausgehend vom einflußreichsten Roman der letzten Jahre: „Azzurro tenebra“, ein Rückblick auf das frühe Ausscheiden Italiens bei der WM 1974, den der Torino-Anhänger Giovanni Arpino 1977 veröffentlichte.

Literarische Qualitäten, so Heydenreich, hätten „jene Texte, die hinter der strahlenden, laut jubelnden Fassade das Düstere sehen und gnadenlos hervorholen, somit auch all das zum eigentlichen Thema erheben, was in Arpinos Worten Fußball nicht ist und doch auch ist: ,... die panische, oft irrationale Hoffnung auf Bewährung, auf Ausbruch aus individueller Isolierung oder kollektiver... Marginalisierung‘.“ Oder die „Bewährung im Sport ... als Überwindung der pubertären Schranke hin zur sozialen und sexuellen Vollwertigkeit.“

Der einzige Schwachpunkt in dieser Zeitschrift ist Willi Nirdts verschmockter Beitrag „Fußball mit Köpfchen“. Hier lesen wir, was 1995 „Germaniens entspannte Fangemeinde am Ende einer in vollen Zügen goutierten Saison als kaum mehr notwendiges Tüpfelchen auf einem ohnehin soliden und sichtbar in Europas Landen plazierten I empfunden hat“: den EM-Titel des DFB-Frauenteams nämlich. Warum steht dieser abschreckende Text, bestenfalls zu lesen als Parodie auf Stilmittel, die man bereits auf dem Müllhaufen der Feuilletongeschichte wähnte, ausgerechnet am Anfang? René Martens

„Zibaldone: Fußball in Italien“. Rotbuch Verlag, 160 Seiten, 22,80DM