: Im Club der dichten Dichter
Anschwellendes Kriegsgetrommel: Rainald Goetz beschreibt in „Rave“ den Drogen-Furor von Techno und darf dafür in Frankfurt zur Poetik-Vorlesung antreten ■ Von Harald Fricke
Zum Glück haben alle den gleichen Weg. Die Vorlesung von Rainald Goetz? Da müssen Sie hier durchs Hauptgebäude, hinter der Tiefgarage über den Aufgang, rechts die Treppe ganz nach oben, und dort ist es der Hörsaal VI. Wir können das Stück auch zusammen längsgehen, ich muß nur schnell noch was zu trinken kaufen. Sagt ein Student und ist plötzlich in einem anderen Trakt der Frankfurter Uni verschwunden. Ansonsten hängen überall Kopierzettel aus, auf denen André Glucksmann angekündigt wird. Auf dem Aushang zur Poetik-Vorlesung von Rainald Goetz steht nur vermerkt, daß man keine Fotos machen soll, wie es halt so ist bei Konzerten, selbst im universitären Rahmen. Zur Begrüßung wird Goetz später „Hallo Frankfurt!“ rufen und laut darüber lachen, daß weder Siegfried „Suhrkamp“ Unseld noch der betuliche Ordinarius in der Reihe hinter ihm den Witz verstehen.
Auch für den Rest im Auditorium ist die erste der fünf Poetik- Vorlesungen von Rainald Goetz sehr verwirrend. Natürlich wollten ihn einige StudentInnen bloß mal in Aktion sehen, weil er als Popstar und Gesamtkunstwerk in Sachen Wissenschaft, Party, Exzeß und Literatur gehandelt wird. Aber jetzt ist der Auftritt wirklich die „brutale Echtrealität“, von der er schreibt: Ununterbrochen kreiselt der drahtige Herr Goetz ums Podium, spielt ein paar Takte Madonna an, freut sich über die Sparsamkeit und den Schmalz in ihrem „Frozen“-Hit oder erklärt die Mayday-Hymnen und wie jeder neue Track Fortsetzung und Neuanfang im Techno-Kosmos ist. An die Tafel hat er derweil „Formphantasie“, „Thema“, „Theorie“, „Text“ und „Kritik“ geschrieben. Als er zu formulieren versucht, wie das alles vom Geist her zusammenpaßt, fährt er sich nervös über den kurzgeschorenen grauen Schopf, stockt und ist draußen: „Nein, so kommen wir jetzt nicht weiter.“ Danach ist es erst einmal still im Raum, und aus der Stille kommt ihm dann die Idee, daß am Anfang immer Stille sein muß, damit etwas beginnen kann.
Verschlüsselte Übertragungen
Keine Frage, hier wird gearbeitet, rasend Ordnung im Denken produziert und sogleich verworfen, weil sich die Wirklichkeit, die dieses Denken lenkt, schon wieder verändert hat. Verlegen schaut er auf die Uhr, es sind erst 15 Minuten um, und im Grunde weiß Goetz gar nicht recht, was er eigentlich sagen soll. Zuerst hat er zwar mit wunderbarer Klarheit erzählt, daß in der Nacht das Gehirn schweigt, um wieder zum Körper zurückzufinden. Aber am Ende will er auf keinen Fall „mit denselben Plattheiten dastehen wie Ingeborg Bachmann oder Bodo Kirchhoff“, die in den letzten 40 Jahren unter vielen vor ihm Gast der Poetik- Vorlesungen waren. Damit das nicht passiert, hält er ein Büchlein von Michel Foucault hoch, denn „Die Ordnung des Diskurses“ ist mindestens so wichtig wie der richtige Einstieg bei den Platten, die er zwischendurch aufgelegt hat.
Auf zwei Dinge kann sich der driftende Goetz an diesem Abend doch noch einigen: Das Verhältnis von Realität und Literatur müsse man sich wie eine verschlüsselte Fußball-Übertragung auf Premiere vorstellen, bei der man vom Kommentar kaum etwas mitkriegt und nur verschwommene Figuren sieht. Doch das macht gar nichts aus, denn „man kennt ja Fußball, man will ja nur wissen, was da los ist“. Außerdem fällt ihm Uwe Johnson als Beispiel für den Umgang mit Textproduktion ein: Im dritten Band der „Jahrestage“ hatte Johnson geschrieben, daß es im nächsten Jahr wie bisher weitergehen sollte – und plötzlich kam fast zehn Jahre nichts mehr, „weil sich der Geist der Sprache zurückgezogen hatte“. Daher ist es für Goetz so wichtig, sich stets und immer wieder als das, was man ist, zu bekennen; deshalb soll zur nächsten Sitzung auch jeder seine Lieblingsplatte oder seinen Lieblingsfilm mitbringen. Und als er sich danach verabschiedet, trägt ihm niemand mehr das chaotische Auf und Ab der Rede nach, weil er mit eben diesem Vortrag ein Bekenntnis zur Begeisterung geliefert hat.
Vorher war er ziemlich unsicher gewesen. Seit Wochen gibt es auf der Goetz-eigenen Homepage www.rainaldgoetz.de Eintragungen darüber, wie groß der Druck ist, sich vor ein Publikum zu stellen und über das Schreiben zu reden, was ohnehin im Widerspruch enden muß. Noch am Morgen vor dem Uni-Termin hieß es dort, „nur wenn man weiß, wieviel man versieben kann, hat man die Chance, daß vielleicht auch was irgendwie Tolles gelingt. Trotzdem ist Angst für den Live-Event KEIN brauchbarer Ratgeber. Nicht umsonst bin ich es im Normalfall ja genau nicht, live. Ich bin, wie Schrift, nicht live: DEAD.“
Bumm, bumm, bumm und geil, geil, geil
Dieses Prinzip, Gegensätze zwecks Versöhnung hochzuhalten, gilt für die Schrift genauso wie für den Menschen. Rainald Goetz, 43 Jahre alt, ist „Schriftsteller, Mediziner und Historiker“ – wie es in Einführungstexten gerne heißt –, und seit längerem auch Raver. Weil bei Goetz in der Produktion alles immer zusammengehört, kam im Herbst 1994 zur Buchmesse eine CD mit Dichtung und Techno heraus, und im letzten Frühjahr hat er für Westbam eine Art Nachklapp der Rave-Bewegung veröffentlicht. Damit begann der Ärger: Für Goetz war der Beat auf einmal die „Heilsbotschaft“, bei der man „denkend nie so ganz verstehen kann“, wie „das Große des Glückseffekts“ funktioniert. Durch diesen Angriff auf die analytische Popkritik hatte sich der Popliterat komplett vom Popdiskurs verabschiedet. Mehr noch, indem er vor allem Party, Rausch und Masse abfeierte, schien Goetz sich in seinem Antiintellektualismus mit dem soldatischen Gehabe Ernst Jüngers zu treffen. An diesem Punkt war Schluß mit lustig.
Mit der vor kurzem erschienenen Erzählung „Rave“ haben sich die Fronten nochmal verhärtet. Auf 270 Seiten gibt es Drogen, Sex, Ekstase und zuletzt die Erkenntnis, daß wahres Leben außerhalb der Clubs gar nicht existiert. Alles wird von der Stetigkeit des Beats geregelt, dessen Monotonie sich im Text wiederholt: „Und der große Bumbum sagte: eins eins eins – und eins und eins und – eins eins eins – und – geil geil geil geil...“ Soweit das erzählerische Minimalhackbrett der zum Tanzen gebrachten Verhältnisse, bei denen für Goetz erstaunlich oft Niklas Luhmann die Plattenteller dreht.
Tatsächlich handelt „Rave“ von einer Gesellschaft, in der sich sämtliche Beziehungen mit jedem Groove oder auf einer Bassline neu organisieren müssen. Mal ist es die Love Parade, dann irgendeine durchgekokste Nacht auf Ibiza, dann wieder das heimatliche München und das Weißbier, das man am Tresen mit irgendwelchen Bekannten trinkt. Raveland ist das Betriebssystem Club: Jede Außenabgrenzung erklärt sich aus dem Selbstverständnis im Geiste der Party. Sämtliche Kritik ist wiederum ausgeschlossen, weil „Rave“ eine argumentfreie Zone gegen die Langweiler aus dem Feuilleton bilden soll. Mit dem strategischen Kalkül eines Radikalsituationisten wirft Goetz dagegen den Innerlichkeitsturbo an und textet: „Wer baut? Wer hackt? Wer backt das Brot?“ Manchmal hört sich der Sound auch bloß wie Achtziger-Jahre-Parolen an: „Noch ein Spruch, Kieferbruch“.
Auf Dauer ist der theologische Ernst, das störrische Insistieren auf Spaß ein unerquickliches Durchhaltemanöver. Schneller, weiter, mehr. Statt sich entspannt in den Beat zu legen, wird eben doch „Politics“ gemacht, werden Feinde zu Feinden erklärt und eine Freiheit der „Church of Fun“ behauptet, die lediglich aus der Suche nach Drogenbaronen besteht. Goetz' Freiheit macht nicht arm, sondern abhängig. Trotzdem gibt es völlig enthusiastisch gemeinte Szenen, in denen sich vom Feiern abgekämpfte Leute über ihre leicht verpeilte Sicht der Wirklichkeit amüsieren, weil doch der Rausch die Menschen eint. In besonders günstigen Augenblicken spürt man die Euphorie der Beteiligten, aus der
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sich jede noch so geringe Alltagsbanalität zur mitreißenden Erfahrung hochschraubt. Manchmal landet der Raver-Haufen auch zusammen im Hotelbett oder man macht spontan auf der Tanzfläche miteinander rum, weil Sex gemeint ist, „sonst nichts“. In peinlichen Fällen mündet die kommunenhafte Gefühlsunmittelbarkeit in Nacktbadekitsch bei Mondschein.
Noch häufiger ist „Rave“ aber auch bloß Erzählung, dieses „kleine, böse Ding“, wie Goetz es nennt, bei der es vor allem auf die Unerbittlichkeit des Geschriebenen ankommt. Wenn die Textmaschine heißläuft, muß dem Leser die Auflistung von Namen genügen, um sich einen Reim darauf zu machen, was zwischen all den Mädchen, Jungs und DJs passiert. Seitenlang treffen Leute aufeinander, deren Gespräche Satzfetzen in der Fremde bleiben. Zugleich läßt er seinen letzten Helden Schütte notieren, daß „auch alles Nichtverschwiegene so einen Scheußlichkeitshau“ hat. Am liebsten sieht es Goetz, wenn der leuchtende Pfad des Rave derart in die totale Kaputtheit führt, in den Triumph der Negativität, die sich selbst wieder nur in der Wiederholung negiert und also „auch nicht schlecht“ ist.
Ein Leben wie in einer Wahlfamilie
Für Goetz ist Techno am Rande zum Absturz angesiedelt, so wie er früher etwa von Virgin Prunes, Sex Gang Children und anderen Totengedenkpunkgruppen fasziniert war. Hierin zumindest trifft sich die Sehnsucht nach Auflösung und Auslöschung im ewigen Basswummbeat mit dem Endzeitpathos bei Ernst Jünger (außerdem gehören beide zur Drogenfraktion, die einen guten Trip als vom „Erlebten beseelte“ Experience schätzen). Für einen Skandal taugt ein solches Bekenntnis wenig, schließlich hatte Goetz im Nachruf auf Jünger explizit die Affinität zum Thema gemacht: „Daß der Tod, den er im Übermut der Jugend herausgefordert hatte, ein überlanges Leben lang nicht von ihm weichen wollte – das vielleicht schrecklichste, traurigste und menschlichste Bild dieses Lebens.“ In „Rave“ löst sich die Mischung aus Gothic, Trash, Katholizismus und Kriegsgetrommel in der Ironie der Sprache auf: Einer der bevorzugten DJs heißt „Hell“, so nahe liegen Licht und Hölle zeichentechnisch gesehen beieinander.
Die Bruchstückhaftigkeit der Zusammenkunft mit allem und keinem ergibt sich indes aus der teilnehmenden Beobachtung, aus der Goetz seine Jahre mit Techno beschreibt – und aus seiner Liebe zum besagten Luhmann, dessen „Kunst der Gesellschaft“ so etwas wie das Basisprogramm für „Rave“ darstellt. Während man beim Systemtheoretiker lesen kann, daß es keine Letzteinheiten gibt, deren Identität nicht wieder auf den Beobachter zurückverweist“, arbeitet Goetz sich daran ab, „eine Art Widerspruchsbalance“ herzustellen zwischen dem, was er sieht, und der Tatsache, daß er sieht, wie sich die Wirklichkeitseffekte einstellen, egal ob im Club, unter Drogen oder während der „Harald Schmidt Show“.
Kein Ich, keine Wahrnehmung – seit „Irre“ vor immerhin 15 Jahren erschien, ist dieser Zwang zum Authentischen akuter Goetz-Zustand. Statt sich das Hirn aber weiter am eigenen Schädel zu stoßen, wirkt das Ich-Gegrübel in „Rave“ vor allem „in Verbindung mit der Musik, dem Gefühl der Summe der Gegenaspekte, der Totale der Geistessicht im Moment dieser Gleichzeitigkeit und der Wohltat des Automatischen dieses Vorgangs in einem“.
Ein Grund für die Leichtigkeit, mit der sich bei Goetz solche überkomplexen Kurzpassagen und freundlich im Schlenderton erzählte Nichtigkeiten über Clubkarrieren abwechseln, liegt im Vertrauen auf den sozialen Rahmen, der mit Techno abgesteckt wird: „Wir hüpften bißchen voreinander rum, Herzlichkeit entstand, gemeinsames Erleben des Erlebnisses der Freundschaft, und drifteten dann wieder fröhlich auseinander.“ Man lebt wie in einer Wahlfamilie, das ist die Grundkonstante in „Rave“, weshalb Goetz in solchen Momenten eine „jungshafte“ Frau wegen der „saulässigen Bewegungen“ in ihren „Arbeiterjeans“ als „angenehm“ beschreiben kann und genausogut Männer meinen könnte – so locker sitzen bei ihm die Geschlechter. Der weiche Bauch von Jürgen Laarmann unterscheidet sich nicht allzu sehr vom kuscheligen Kunstfell der Kookai-Top-Maus, die man von Wolfgang Tillmans Fotos kennt. Ein bißchen anschmiegsam sind alle.
Rainald Goetz: „Rave“. Erzählung. Suhrkamp Verlag, Frankfurt/ Main 1998, 271 Seiten, 38 DM
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