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Die wilden Rinder in Chillingham

In Englands Norden, nahe der schottischen Grenze, lebt eine der ältesten Rinderherden Europas. Im 13. Jahrhundert gab König Heinrich III. die Erlaubnis, die freilaufenden Kühe und Bullen mit einer Mauer einzuhegen. Seither lebt diese Art im Garten von Schloß Chillingham. Auf anderthalb Quadratkilometern gefangen, ernähren sie sich ausschließlich pflanzlich – und sind deshalb garantiert BSE-frei. Auf den Angstgeruch erwachsener Menschen reagieren die heute 43 Kühe und Bullen mit aggressivem Gebaren –auf Kinder nicht.  ■ Von Ralf Sotscheck

Der Jeep wackelt bedenklich, als die Kuh angreift. Wir haben uns durch einen Sprung auf die Ladefläche in Sicherheit gebracht. Das Tier zieht sich nun ein wenig zurück, beobachtet uns und trottet langsam zur Herde zurück. Es war eine Warnung, und wir nehmen sie ernst.

Kühe sind eigentlich friedliche Tiere, dachten wir. Diese nicht. Sie unterscheiden sich von ihren Artgenossinnen nicht nur durch ihre Angriffslust, sondern auch durch ihre Farbe: weiß mit fuchsroten Ohren und langen, weißen Haaren auf dem Rücken. „Die Herde lebt seit 700 Jahren im Park von Chillingham“, sagt Parkwächter Austen Widdows, ein kleiner Mann mit rundem Gesicht und grauen Haaren.

Er trägt Gummistiefel und eine speckige Windjacke mit Löchern. „Wir machen besser, daß wir wegkommen“, sagt er und zieht die grüne Schiebermütze tiefer ins Gesicht. „Die Herde ist dabei, einen Halbkreis zu formen.“ Was bedeutet, daß sie sich zur Stampede bereit macht.

Chillingham ist ein kleiner Ort neben der Schnellstraße A1 zwischen Newcastle und Berwick-upon-Tweed im Norden Englands nahe der schottischen Grenze. Das Nest mit seinen Häusern im Tudor- Stil wurde von den Grafen von Tankerville gegründet. Es gibt hier auch ein mittelalterliches Schloß mit Verlies und Folterkammer. König Heinrich III. war hier oft zu Gast. Er war es, der im 13. Jahrhundert die Genehmigung gab, eine Mauer um das Anwesen zu ziehen. Fortan war die Rinderherde im Park gefangen, und das war auch Sinn der Sache. So konnten die Schotten bei ihren Raubzügen die Tiere nicht stehlen, und die Schloßbewohner hatten Nahrung, wenn ihnen der Sinn nach Rinderbraten stand.

Die Schädelform und die Art der Hörner deuten darauf hin, daß die wilden, weißen Rinder Nachfahren der Auerochsen sind, die in prähistorischer Zeit in Nordeuropa lebten. Die waren allerdings dunkel. Möglicherweise sind keltische Druiden für die weiße Züchtung verantwortlich, denn weiße Rinder waren Opfergaben und daher wertvoll.

Die jahrhundertelange Inzucht scheint ihnen nichts ausgemacht zu haben, die Tiere sind heute lediglich etwas kleiner als früher. Ein Bulle wiegt rund zehn, eine Kuh sieben Zentner. „Die Kühe werden erst mit drei bis vier Jahren geschlechtsreif“, sagt Widdows. „Allein der Leitbulle, der König, darf die Kühe decken. Es ist immer der kräftigste Bulle, meist wird er im Alter von fünf oder sechs Jahren der King. Und seine Herrschaft dauert rund vier Jahre. Das bedeutet, daß er sich nie mit seinen direkten Nachkommen paaren kann.“

Falls ein anderer Bulle den König herausfordern will, entfernt er sich ein wenig von der Herde, brüllt aggressiv und wühlt den Boden mit den Vorderhufen auf. Den losen Sand scharrt er sich über den Kopf und Vorderkörper – eine Art Kriegsbemalung. Nimmt der König die Herausforderung an, vollzieht er dasselbe Ritual. „Die Tiere stehen sich eine Weile gegenüber, bis einer urplötzlich angreift“, sagt Widdows. „Dann grasen sie wieder und beobachten sich dabei, bis zum nächsten Angriff. Das kann sich den ganzen Tag hinziehen, bis einer der beiden seine Niederlage akzeptiert. Er muß dann eine Zeitlang aus der Herde verschwinden.“

Die Kämpfe enden selten mit dem Tod eines Kontrahenten. Nur dreimal in diesem Jahrhundert, wird berichtet, ist ein Tier bei einem Kampf umgekommen. Im Sommer 1939 beispielsweise kehrte der besiegte Bulle nach ein paar Tagen nicht unterwürfig zur Herde zurück, sondern stellte sich ihr trotzig in den Weg. Daraufhin knöpfte ihn sich der König mit Unterstützung eines anderen Bullen vor. Am nächsten Morgen fand man das aufmüpfige Tier tot mit zerquetschtem Brustkasten. Sein Skelett steht heute im Hancock- Museum in Newcastle.

Widdows stoppt den Jeep und springt hinaus. Die weißen Rinder stehen am Bach in dreihundert Meter Entfernung. Der Parkwächter wirft schnell einige Bündel Heu von der Ladefläche, ohne die Herde aus dem Auge zu lassen. „Im Winter müssen wir zufüttern, weil sie nicht mehr soviel Raum haben wie früher, es sind jetzt nur noch anderthalb Quadratkilometer.“ Der Bestand der Herde ist von 80 Tieren im Jahre 1870 auf heute 43 zurückgegangen. 1914 hatte man einen Teil des Parks in Ackerland umgewandelt. Die 90jährige Gräfin Tankerville, zweite Frau des Grafen, ist Schirmdame über Park und Rinder.

Die Kühe kommen langsam im Gänsemarsch auf uns zu. Ihre Rücken sind gerade, sie haben ein fast eckiges Aussehen. „Die Leitkuh führt sie an“, sagt Widdows. „Niemand darf fressen, bevor sie es tut. Hat sie noch keinen Hunger, haben die anderen Pech gehabt. Die Tiere nehmen nur Heu, zur Not auch mal Stroh.“

Vor einem halben Jahrhundert wäre die Herde fast ausgestorben. Damals herrschte in ganz Europa ein strenger Winter, in Nordengland lag der Schnee mehr als sechs Meter hoch. Als die Herde hinunter zum Bach ging, um zu trinken, konnte sie wegen des Schnees nicht mehr zurück. Nur acht Kühe und fünf Bullen überlebten.

Ein Jahr lang wurde kein Kalb geboren, und man glaubte bereits, die Art wäre verloren, doch allmählich ging die Zahl wieder nach oben. Die Natur griff helfend ein: Die Kühe brachten vorübergehend schon mit zweieinhalb Jahren Kälber zur Welt. „Der Königsbulle regierte damals für zwölf Jahre, weil er keine Widersacher hatte“, sagt Widdows.

Widdows arbeitet seit sieben Jahren als Parkwächter in Chillingham, doch selbst er bemerkt eine Schwangerschaft erst, wenn das Kalb bereits geboren ist: „Sie tragen ihre Kälber sehr hoch, wahrscheinlich wegen der häufigen Stampeden. Sie sind ohnehin sehr beweglich, manche Tiere können zwei Meter hoch springen.“ Wenn die Geburtswehen beginnen, verschwindet die Kuh im Unterholz und bringt dort das Kalb zur Welt. Sie hält es etwa eine Woche versteckt, bevor sie es zur Herde führt. „Der König schaut es sich an“, sagt Widdows, „und entscheidet, ob es kräftig genug ist, um mit der Herde mitzuhalten. Wenn nicht, schickt er die Kuh mit ihrem Kalb weg, und sie muß es später noch mal versuchen. Ist der König zufrieden, stellt er es den anderen Rindern einzeln vor.“

Die Zeremonie stammt aus Zeiten, als die wilden Rinder natürliche Feinde hatten. Schwächliche Kälber zogen Wölfe an und gefährdeten die ganze Herde. Aus demselben Grund tötete die Herde früher alte Tiere. Heute werden sie lediglich weggeschickt und leben allein in der Nähe des Baches, bis sie sterben. Einmal sei die Herde zufällig auf ein erst wenige Stunden altes Kalb gestoßen, erzählt Widdows. „Vor allem die Kühe griffen es sofort an und versuchten, es zu töten. Das Muttertier verteidigte es jedoch, und es überlebte. Eine Woche später stellte sie das Kalb dem König vor, und er akzeptierte es.“

Die alten Instinkte sind bei den wilden Rindern noch sehr ausgeprägt. Ein Schäferhund bringt sie nicht aus der Ruhe, wohl aber ein Rudel Jagdhunde. Dann gehen sie in Angriffsformation: die Kälber in die Mitte, die Kühe vorne und an den beiden Seiten die Bullen. Die Tiere können den Schweiß der Angst riechen. Meist ignorieren sie die Besuchergruppen, wenn sie ihnen nicht zu nahe kommen, doch manchmal reagieren sie unruhig. „In dem Fall ist garantiert jemand dabei, der Angst vor den Rindern hat“, sagt Widdows. „Dann machen sie sich zum Angriff bereit, und man muß die Beine in die Hand nehmen.“

Normalen Menschengeruch mögen sie nicht. Kommt ein Rind mit einem Erwachsenen in Berührung, wird es von den anderen sofort getötet. „Wir fingen mehrere Tiere für einen Zoo ein“, sagt Widdows, „die ungeeigneten ließen wir wieder frei. Eine Stunde später waren sie tot. Ein Kalb war sogar von der eigenen Mutter umgebracht worden.“ Eine Gruppe von Kindern weckte dagegen die freundliche Neugier der Tiere. „Sie kamen immer näher an uns heran“, sagt Widdows, „aber gar nicht aggressiv, sondern fast verwundert. Dieses Verhalten hatte ich bei ihnen noch nie erlebt.“

Die Rinder sind noch nie von einem Tierarzt untersucht worden, man konnte lediglich von sterbenden Tieren Blut entnehmen und es analysieren lassen: Die Blutgruppe ist einzigartig unter westeuropäischen Rindern. „Man kann von diesen Rindern viel für die Viehzucht lernen“, sagt Widdows. „Sie leben auf natürliche Art, bekommen kein künstliches Futter und sind gesund. Es ist die einzige Herde in Großbritannien, die garantiert sicher vor dem Rinderwahnsinn BSE ist.“

Nur einmal, im Jahr 1966, kam eine Krankheit bedrohlich nahe: Die Maul- und Klauenseuche war bis drei Kilometer vor Chillingham vorgedrungen. Das Landwirtschaftsministerium hatte angedroht, die Herde töten zu lassen, sollte auch nur ein Tier erkranken. Die Gefahr wurde abgewendet, doch die Tankervilles wußten, wie knapp man davongekommen war. So begannen sie, eine zweite Herde in Schottland aufzubauen. „Sie schafften zwei Kühe und einen Bullen gen Norden“, sagt Widdows. „Da alle drei Tiere in Kontakt mit Menschen gekommen waren, rochen sie alle gleich, so daß das kein Problem war. Inzwischen ist die Herde auf acht Tiere angewachsen.“

Die Chefkuh hat jetzt angefangen zu fressen. Sie ist schneeweiß, wie die anderen Kühe. Die Bullen sind dagegen mit Staub und Erde bedeckt. Ein Jungbulle scharrt in der Erde, geht dann in die Knie und schaufelt gelenkig den Sand mit den Hufen über den Kopf. Ein zweiter Bulle nähert sich ihm und wühlt ebenfalls im Boden. Plötzlich greift der Jüngere an, sein Kontrahent senkt den Kopf, die Hörner verhaken sich. Eine Weile verharren beide regungslos, bis sie sich voneinander lösen und dem Heu zuwenden. „Sparring“, sagt Widdows, „sie üben, bis einer meint, er sei stark genug, um den König herauszufordern.“

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