: Als die Demokratie noch gesungen wurde
Eine wilde Zeit damals, ein materialreicher, geordneter Rückblick heute: Das Marbacher Literaturarchiv widmet seine Jahresausstellung der Literatur um 1968. „Protest!“ zeigt einen Liebesbrief von Jimi Hendrix und hütet sich vor eindeutigen Antworten ■ Von Georg Patzer
Revolutionäres tut sich in Marbachs ehrwürdigem Literaturarchiv. Die Jahresausstellung „Protest! Literatur um 1968“ wurde stolz angekündigt als „Wagnis, mit einer Ausstellung in eine dermaßen offene Diskussion einzutreten“. Es gehe um Fragen, die das Gedenken an „dieses Epochenjahr“ aufwerfe. Das ist neu und läßt für die Zukunft hoffen.
Die zweite Revolution in Marbach betrifft die Ausstellung selbst: Die Medien werden entdeckt. Wohl zum ersten Mal gibt es nicht nur viel Papier zu sehen, sondern auch richtige Filme auf zwei Monitoren. Vorne erklärt Karasek, warum man Hochhuths „Stellvertreter“ nicht aufführen konnte, hinten Dutschke, warum die Revolution notwendig ist.
Und dann gab es noch eine dritte Revolution. Sie ereignete sich bei der Eröffnung am 9. Mai: Noch vor dem Einführungsvortrag von Michael Rutschky ging eine Gruppe von modischen Jungpunks nach vorne, entrollte Spruchbänder („Piep, piep, piep, Dutschke hat euch lieb“) und verlas ein Flugblatt, das im üblichen Sprachduktus an den Tod von Ulrike Meinhof am 9. Mai 1976 und an den bewaffneten Kampf erinnerte. Die Ausstellung dagegen sei dafür zu kritisieren, die „68er Revolte kulturindustriell zu verwursten“ und „den Widerstand (...) konsumierbar“ zu machen. Ein Hauch von Aufstand wehte durch die ruhigen Räume, und einige der Besucher, die sich im geordneten Konsum gestört fühlten, protestierten auch gleich programmgemäß.
„Protest!“ – die Ausstellung greift tief in die Archivkisten. Zwar ist es für Marbach neu, ein so „aktuelles Thema“ aufzugreifen, aber aus ihren Nachlässen (seit neuestem auch das Luchterhand- und das März-Archiv) und mit vielen Leihgaben wird doch die Literatur der Revolte lebendig und greifbar.
In vier Hauptkapiteln haben die Marbacher die Zeit systematisch aufgearbeitet und Verbindungslinien der Literatur aufgebaut: „Berliner Gemeinplätze“ fragt nach dem Zusammenspiel von Literatur und Revolte in Berlin. „Avantgarde und Subkultur“ führt zu „Acid“, Handke und Fichte. „Der postmoderne Impuls“ stellt den amerikanischen Kulturkritiker Leslie Fiedler, der den Tod der Moderne postulierte, in den Mittelpunkt, und mit „Emanzipationen“ ist dann schließlich der vorläufige literarische Tiefstand erreicht.
Es liegt wohl nicht so sehr am Thema, sondern eher an der Fülle des Materials, daß vieles nur angerissen und angedeutet und erst im dicken und wie immer äußerst materialreichen Katalog weiter ausgebreitet wird. Die neue Kunst von Beuys, Staeck und Warhol beispielsweise ist nur plakativ am Rande aufgehängt. Musik, die ja doch aus Tönen und Texten besteht, kommt überhaupt nicht vor; man denke: Ton Steine Scherben in Marbach, das wäre doch was gewesen. Wenigstens haben die Marbacher einen witzigen Liebesbrief von Jimi Hendrix an „Miss Uschi Obermaier“ ausgestellt und zeigen den heute auf CSU-Veranstaltungen auftretenden Biermann.
„Dich singe ich Demokratie“, beginnt es in den frühen sechziger Jahren mit Reden von Günter Grass und einer Verlobungsanzeige der stolzen Eltern „Pfarrer Helmut Ensslin und Frau Ilse, Stuttgart-Bad Cannstatt“: ihre Tochter Gudrun mit Bernward Vesper. Das sind auch zwei der wichtigsten Linien, die sich durch die Ausstellung ziehen: auf der einen Seite der aufbegehrende Literat, der sich nach SPD-Wahlkontor und dem „Tod der Literatur“, der Gründung der Autoren-Edition und dem Mitspracherecht beim Luchterhand-Verlag doch wieder arrangierte, elitäre Zeitschriften herausgab und feine Greno-Bücher und jetzt eher wehmütig zurückblickt – und auf der anderen Seite die Aufmüpfigen, die nach der Anthologie „Gegen den Tod“ und den Ostermärschen, nach den Puddingattentaten und „Klau mich“, nach „Sexfront“ und den Raubdrucken zur Kaufhausbrandstiftung und Gefangenenbefreiung übergingen.
Eine sanfte Mischung aus beiden plus einem Schuß Bachmann ergab die Softi- und die Frauenliteratur, Peter Schneiders „Lenz“ und Verena Stefans „Häutungen“, die Erich Fried wegen ihrer vielen grammatikalischen Fehler, falschen Metaphern und unangebrachten Tempuswechseln kritisierte. Und daneben gab es immer wieder die literarische Avantgarde, die sich um die selbststilisierten Untergänge (die Metaphern der Zeit waren „Untergang der Titanic“ und „Ästhetik des Widerstands“) nicht scherte und fröhlich weitermachte. Handke schrieb Gedichte über Lottozahlen und Fußballmannschaften und beschimpfte das Publikum, Rygulla übersetzte in „Acid“ die modernen Amerikaner, Brinkmann schenkte „Rom Blicke“, Bernward Vesper machte sich auf „Die Reise“ und Crumb zeichnete zum ersten Mal auch für Deutschland.
Eine wilde Zeit damals, ein wohlgeordneter Rückblick heute, aber kein vorläufiger Abschluß. Marbach hütet sich klug vor eindeutigen Antworten. Die muß schon jeder selbst versuchen. Aber ein interessanter Zwischenstopp und eine sehr lehrreiche Materialsammlung ist die Ausstellung allemal mit Aussichten auf Kinderzeiten der heutigen Professoren und Kulturträger. Ob die wohl gerne lesen, daß sie damals an den „Genossen Schröder“ vom März-Verlag geschrieben haben und ihren Wunsch nach Kollegenrabatt auf die Pornobücher mit „Rotfront“ abschlossen? Oder: „Schröder du dumpfe Sau“, das ist auch so ein Beispiel der damals aufkommenden „Neuen Spontaneität“.
„Protest! Literatur um 1968“. Jahresausstellung in Marbach a.N. bis zum 30. November. Täglich 9 bis 17 Uhr im Schiller-Nationalmuseum. Dazu erschien der „Marbacher Katalog“ 51. Mit einem Essay von Helmuth Kiesel. 670 Seiten, mit zahlreichen Abbildungen, 40 DM
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