Der SED-Reformer

Im Leben fast jedes Menschen gibt es eine entscheidende Geschichte. Eine, die zum Zeitpunkt, zu dem sie sich zugetragen hat, eine Rolle spielte wie viele andere Geschichten vor ihr auch, die aber später als entscheidend für den weiteren Lauf des Lebens gesehen wird. Man meint, eben diese Geschichte ranke sich um einen Punkt, an dem sich der Zufall und die Notwendigkeit kreuzen. Meistens bildet man sich das hinterher nur ein. Aber das ist dann schon nicht mehr wichtig.

Eine solche Geschichte im Leben von Rolf Reißig hat sich im Februar 1986 zugetragen. Der studierte Historiker und Philosoph war damals 45 Jahre und galt in der DDR als junger Professor. Ein Jahr zuvor war er gerade Institutsdirektor an der Akademie für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED geworden. Am 10. Februar fand im westdeutschen Freudenstadt die vierte Gesprächsrunde zwischen der SPD und der SED statt. 1983, nach dem Nato-Raketenbeschluß, hatten beide Parteien ihren Dialog begonnen.

Erstmals durfte auch Reißig an dieser Runde teilnehmen. Bevor sie in der Nacht in den Zug stiegen, kauften die Akademie- Professoren 20 Exemplare des Neuen Deutschland, in der die Rede von Gorbatschow gedruckt stand, die er als neuer Generalsekretär gerade auf dem Parteitatg der KPdSU gehalten hatte. Sie lasen die Rede sofort und Reißig stellte erschrocken fest, daß eine Passage seiner Rede für Freudenstadt, die er noch niemandem gezeigt hatte, mit einer bei Gorbatschow fast identisch war: Daß es einen Wettbewerb der Systeme gebe, der offen sei, bei dem im friedlichen Wettstreit jede Seite ihre Vorzüge entwickeln müsse und auch die Menschenrechte eine Rolle spielen. In der DDR war das politischer Sprengstoff.

Reißig also hielt in Freudenstadt seinen Vortrag, und als er fertig war, war es erst einmal still. Dann sprach Erhard Eppler, einer der führenden Sozialdemokraten, fast atemlos, von einem „kühnen Vortrag“, den er so „noch nicht gehört“ habe. Danach schlug er vor, das doch mal aufzuschreiben und fragte, ob das auf SED-Seite nicht Reißig machen könnte. Damit begann die Geschichte des Dialogpapiers von SED und SPD.

Da bei den Gesprächen in Schwarzwald auch Journalisten dabei waren, erfuhr die bundesdeutsche Öffentlichkeit vom „kritischen SED-Professor“. Fortan galt Reißig als einer der führenden Reformer in der SED. Er diskutierte 1987 – ein Novum zu dieser Zeit – öffentlich sogar mit dem, nach Wolf Biermann, DDR-Staatsfeind Nummer zwei, Jürgen Fuchs.

Im März 1990 gründete Reißig das Berliner Institut für Sozialwissenschaftliche Studien (BISS), sowohl privat als auch gemeinnützig. Einstige Weggefährten warfen ihm vor, daß er sich, ohne eine Schamfrist einzulegen, den neuen Verhältnissen sofort angepaßt habe und in der neuen (Denk-)Welt glücklich gelandet sei. Reißig selbst spricht von einem inneren Zwang, den er gespürt habe, ein solches Institut gründen zu müssen.

Das auch im Westen angesehene BISS ist spezialisiert auf Transformationsforschung, insbesondere auf die Folgen der deutschen Vereinigung. Reißig (57) sitzt dem Institut vor. Jens König