■ Zwangssterilisation in Bremen: 18jährigen sterilisiert – zuviel Interesse für Afrika
„Ich bin heute nach Bremen gefahren, und ich werde mich sofort an einer abgelegenen Stelle an der Weser ertränken... Sie haben mir auch gestern erklärt, daß Fliehen zwecklos sei, doch ich will der irdischen Sache entgehen“, schrieb der damals 18jährige Hans (Name geändert) 1936 in einem Abschiedsbrief an die Bremer Justizbehörden. Der junge Mann wollte sterben, weil er zwangssterilisiert werden sollte. Am 14. November 1934 hatten ein Amtsarzt und der Waisenhausvorsteher beim Erbgesundheitsgericht, das dem Amtsgericht zugeordnet war, den „Antrag auf Unfruchtbarmachung“ gestellt. Sie hielten Hans für „schwachsinnig“.
Das Schicksal des 18jährigen Halbwaisen ist kein Einzelfall. Mehr als 2.600 Menschen wurden in Bremen in den Jahren von 1933 bis 1945 zwangssterilisiert. Davon waren etwa 520 Jugendliche im Alter von zehn bis 15 Jahren. Historiker gehen davon aus, daß in den Jahren 1934/35 mehr als die Hälfte aller Patienten in staatlichen und privaten Kliniken in Bremen sterilisiert wurde.
Das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuches“ vom 4. Juli 1933 machte die Zwangssterilisation von Kranken, Behinderten, Alkoholikern, Sinti, Roma, Pfleglingen von Heilanstalten u.a. Häftlingen möglich. Ab dem 1. Juni 1935 wurde in Bremen eine Beratungsstelle für Erb- und Rassenpflege beim Gesundheitsamt eingerichtet, die eine Erbkartei erstellte. Ende 1935 waren 8.000 Bremer darin registriert, im November 1936 waren es 20.600.
„Nichts darf unversucht gelassen werden, was zur Rettung unseres Volkes und der weißen Rasse überhaupt dienlich sein kann“, schrieben die Bremer Nachrichten am 27. Juli 1933 über das neue Gesetz. Die „Zahl der Minderwertigen in den europäischen Kulturländern“ steige „mit rasender Geschwindigkeit“. „Gerade die Minderwertigen“ würden „sich mehr als doppelt so schnell“ fortpflanzen wie die „Hochwertigen“.
Zu den Minderwertigen zählte auch Hans. „Er selbst wird vollständig von einem Gedanken eingenommen, und das ist Afrika. Er sieht jede Zeitschrift daraufhin durch, bringt die Zeitung nichts über Afrika, bringt er sie alsbald zurück“, heißt es in einem Brief des St. Petri Waisenhauses an den Vorsitzenden des Bremer Erbgesundheitsgerichts. Außerdem sei der Junge „von einer schauerlichen Neugierde“.
Bei der Verhandlung vor dem Erbgesundheitsgericht, das dem Amtsgericht angegliedert war, mußte Hans dem Richter und einem Arzt eine Reihe von Fragen aus den Bereichen Geschichte, Politik und Geographie beantworten. In Bremen drang die Behörde darauf, daß die Ärzte bei Gericht NSDAP-Mitglied sein mußten. Hans beantwortete nahezu alle Fragen richtig, die Zwangssterilisation wurde für ein Jahr ausgesetzt.
Nach Ablauf des Jahres kamen die Richter allerdings doch zu der Meinung, daß Hans keine Kinder kriegen dürfe. Die Beschwerde der Mutter beim Erbgesundheitsobergericht in Hamburg half dagegen nichts. Hans lriß aus dem Heim aus und flüchtete zu Verwandten, die ihn ins Waisenhaus zurückbrachten.
Am 21. August 1936 wurden seine „Samenleiter durchtrennt“ wegen „angeborenem Schwachsinns“. Fünf Tage später wurde Hans als „geheilt“ aus der Bremer Krankenanstalt entlassen. Über sein weiteres Schicksal ist nichts bekannt.
Kerstin Schneider
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen