: Schwestern im Geiste
Mystik ist ein schillernder Begriff. Sie beginnt dort, wo die Logik aufhört, und wird erlebt von denen, die sich auf Grenzsituationen einlassen. Wenn von Mystik im Abendland die Rede ist, dürfen zwei Namen nicht fehlen: Hildegard von Bingen und Caterina von Siena. Daß Mystik eine Erfahrung jenseits von konventioneller Religiosität sein kann, zeigt das Leben der Atheistin Rosa Luxemburg. Eine politische Visionärin, die bereit war, ihre persönlichen Grenzen zu überschreiten. Der Versuch einer Annäherug ■ Von Jörg Jungmayr
So erzählt Alfred Döblin in seinem Roman „November 1918“ die Begegnung zwischen einem Engel und Rosa Luxemburg in der Nacht vor ihrer Ermordung. Döblins im Exil entstandener Roman ist der faszinierende Versuch, mit Mitteln der exakten Dokumentation und der surrealen Verfremdung die Frage zu beantworten, warum die Revolution von 1918 zum Scheitern verurteilt war.
Die Begegnung zwischen Rosa und dem Cherub hat sich so nie zugetragen. Das fiktive Ereignis hat Döblin als ein mystisches Schlüsselerlebnis gestaltet: In der Begegnung mit dem fremden Gegenüber begreift Rosa ihr eigentliches Ich und erfährt so eine transzendentale Weiterung ihrer eigenen Existenz.
Was aber bedeutet das, Mystik? Ist sie nur religiös gebundenen Menschen vorbehalten? Kann es auch eine Mystik außerhalb von Kirche geben?
Mystik, abgeleitet vom griechischen Verb myein, meint: die Augen, die Lippen schließen. Erst wenn man die Augen schließt, wird man sehend, erst wenn man man schweigt, findet man Worte. Mystik ist die Erfahrung des Anderen, des Fremden, auf das man sich einlassen muß, über das man nicht verfügen kann.
Sie ist ein Phänomen, das es zu allen Zeiten und in allen Religionen gegeben hat. In der abendländischen Kultur meint Mystik den Erfahrungsbereich, der sich besonders Frauen erschlossen hat. Als die großen Mystikerinnen des Mittelalters gelten Hildegard von Bingen oder Caterina von Siena.
Hildegard von Bingen, 1098 geboren, ist eine der gelehrtesten Frauen des Mittelalters gewesen – und eine der vielschichtigsten zugleich. In ihren Schriften berichtet sie von Visionen, die sie beunruhigten und ängstigten, denen sie sich aber doch nicht entziehen konnte. In ihnen erschloß sich ihr das Geheimnis der Schöpfung.
Eine prächtige Miniatur aus der um 1230 entstandenen Handschrift von Hildegards Liber divinorum operum, dem „Buch von den göttlichen Werken“, vermittelt einen unmittelbar sinnlichen Eindruck ihrer Vorstellung vom Kosmos: Die Gottheit umfaßt mit ihren Händen das aus den himmlischen Sphären gebildete Kosmosrad. In dessen Mitte steht, lichtüberströmt und von Winden umweht, der in die Kräfte des Kosmos eingebundene Mensch. Am Rande, in der linken unteren Ecke der Miniatur, sitzt winzigklein, die Seherin Hildegard und notiert ihre Visionen auf zwei Wachstafeln. Licht, Wind, Musik (in der die Harmonie der Sphären erklingt), der Mensch als Mikrokosmos: Das sind die Themen, um die Hildegard in ihren Schriften und Liedern kreist.
Ihre mystischen Erlebnisse, ihre „Schauen“, will Hildegard jedoch weitergeben. Sehen und Schreiben bedeutete für Hildgard aber nicht, sich aus der Welt zurückzuziehen, im Gegenteil: Sie mischte sich in die Welt ein, reiste, predigte, korrespondierte mit allen Machtträgern ihrer Zeit und wußte dabei mit sicherem Instinkt ihre eigenen Interessen durchzusetzen. So als sie 1150 ein eigenes Kloster auf dem Rupertsberg oberhalb von Bingen gründen wollte. Die Mönche vom Disibodenberg, deren Kloster ihr alter Konvent angeschlossen war, weigerten sich, die Nonnen ziehen zu lassen, weil sie Machtverlust und finanzielle Einbußen befürchteten. Da legte sich Hildegard mit einer Lähmung ins Bett und behauptete, ihre Krankheit sei die Strafe für das renitente Verhalten der Mönche. Als die Mönche schließlich dem Umzug zustimmten, wurde sie umgehend gesund.
Jede normale Nonne hätte sich in dieser Situation dem Willen der Vorgesetzten gefügt. Nicht so Hildegard. Wie der Politikerin Rosa Luxemburg war ihr eine beachtliche Beharrlichkeit zueigen. Die speiste sich bei beiden nicht aus Überheblichkeit, sondern eben aus dem Wissen heraus, einem höheren Auftrag zu folgen. Einem Gott, einer Weltanschauung, einer Heilserwartung.
Im Gegensatz zu Hildegard von Bingen, die mit 81 Jahren starb, wurde die 1348 geborene Caterina gerade einmal 33 Jahre alt. An ihrer Wiege standen Pest und Umsturz, und als sie starb, war die Kirche in zwei Teile auseinandergebrochen. Somit umfaßt dieses kurze Leben all die Ereignisse, welche die Zeitgenossen in Schrecken versetzten, und deretwegen sie ihr Jahrhundert als das endzeitliche, das apokalyptische, bezeichneten.
Und doch hebt sich Caterina auf eine eigentümliche Art von den verängstigten Menschen ihrer Zeit ab. Sie malt nicht wie ihr Landsmann Dante in wollüstigen Schauern die Höllenqualen der Verdammten aus, sie droht nicht mit Gericht und Strafe, sondern ist voller Zuversicht für das Hier und Heute. Den Zuspruch su, corraggio – „Auf denn, hab' Mut“ – verwendet sie häufig in ihren Briefen und verachtet den timor vile, die feige Furcht vor Bestrafung.
Der Antrieb für ihr Schreiben war – anders als bei Hildegard, die wissen wollte, was die Schöpfung im Innersten zusammenhält – ein unmittelbar politischer. In dem von Kleinkriegen zerrissenen Italien machte sie es sich zur Aufgabe, Frieden zu stiften. Sie, die avant la lettre eine Friedenskämpferin war, sah den eigentlichen Grund für den Unfrieden in der Welt im Krieg, den der Mensch gegen sich selber führt. Um diesen Zustand zu beenden, reiste sie mit einer kleinen Gruppe von Frauen und Männern durchs Land. Auch der Vorwurf der Ketzerei hielt sie nicht davon ab, die glanzvolle Papstresidenz in Avignon als stinkende Kloake zu bezeichnen und den Papst zu einer radikalen Kirchenreform aufzufordern.
War der eine Pol ihres Lebens das politische Engagement, so war der andere die Meditation, der Rückzug von der Welt in die Zelle des eigenen Seins.
Wenn die Ekstasen über sie kamen, blieben ihre Augen halbgeschlossen, ihr Körper wurde unempfindlich für äußere Reize. Und obschon sie „entrückt“ war, blieb sie auf eine ganz konzentrierte Art präsent: aus der Ekstase heraus diktierte sie, mitunter drei Sekretären zugleich, ihre Briefe und das Hauptwerk, „Das Gespräch von der Vorsehung Gottes“.
Versucht man das, was Mystik bei Hildgard und Caterina ausmacht, auf einen Nenner zu bringen, so ist es eine innere Erfahrung von Gott und Welt. Die Visionen und Ekstasen treiben sie dazu, sich mitzuteilen und einzumischen, das Notwendige auch dann zu tun, wenn am Ende das Scheitern und der eigene Tod stehen.
Was aber, so wird man sich fragen, hat die Atheistin, die Friedenskämpferin und Mitbegründerin des Spartakusbundes Rosa Luxemburg damit zu schaffen? Ist die Rosa, so wie Döblin sie darstellt, nicht nur die Projektion eines Autors, der seine Vorstellung von der Mystik als der Brücke zwischen Christentum und sozialistischer Revolution zu exemplifizieren sucht?
Die Literarisierung Rosas durch Döblin stieß und stößt auf Kritik und Unverständnis. Für dogmatische Linke kommt es immer noch einer Blasphemie gleich, wenn die Spartakistin als eine Frau geschildert wird, die ihre Kraft aus einer jüdisch inspirierten Heilserwartung schöpfte.
Indes: Rosa Luxemburg wurde 1871 in Zamosc in Galizien geboren, jener untergegangenen Provinz am Rande Europas, in der sich so viele Sprachen, Kulturen und Religionen durchmischten und abstießen. Rosa hatte, aufbegehrend gegen die Enge der Kleinstadt, ihr jüdisches Milieu längst hinter sich gelassen, als sie sich im Mai 1917 im Gefängnis wieder an die Religion der Mutter erinnerte.
In einem Brief an Sophie Liebknecht schreibt sie: „Meine Mutter, die nebst Schiller die Bibel für der höchsten Weisheit Quelle hielt, glaubte steif und fest, daß König Salomo die Sprache der Vögel verstand. Ich lächelte damals mit der ganzen Überlegenheit meiner 14 Jahre und einer modernen naturwissenschaftlichen Bildung über die mütterliche Naivität. Jetzt bin ich selbst wie König Salomo: ich verstehe auch die Vögel und die Tiere.“
In vielen Briefen aus dem Gefängnis findet sich eine tiefe Verbundenheit Rosas mit Blumen und Tieren, die über bloße Naturschwärmerei hinausreicht und in der sich die Vorstellung von einer unzerstörbaren Schöpfung ausdrückt, in der jedes Geschöpf seinen Platz findet.
An anderer Stelle schreibt sie an Sophie Liebknecht: „Mein Vöglein, die ganze Kulturgeschichte der Menschheit, basiert auf der 'Entscheidung von Menschen über andere Menschen', was in den materiellen Lebensbedingungen tiefe Wurzeln hat. Erst eine weitere qualvolle Entwicklung vermag dies zu ändern, wir sind ja gerade jetzt Zeugen einer dieser qualvollen Kapitel, und Sie fragen, wozu das alles? 'Wozu' – ist überhaupt kein Begriff für die Gesamtheit des Lebens und seine Formen. Wozu gibt es Blaumeisen auf der Welt?“
Hier schwingt, wie bei den mittelalterlichen Mystikerinnen auch, etwas mit, was einem den Blick eröffnet für das, was nach dem Alten und Verbrauchten kommt und was der Philosoph Ernst Bloch als „das Morgenrot der Apokalypse, den Anbruch der Freiheit der Kinder Gottes“ treffend bezeichnet hat.
Den Zustand der alten Gesellschaft beschrieb Rosa 1916 mit Worten, die sich ähnlich auch bei Caterina von Siena finden lassen: „Städte werden zu Schutthaufen, Dörfer zu Friedhöfen, Länder zu Wüsteneien, Bevölkerungen zu Bettlerhaufen, Kirchen zu Pferdeställen; Völkerrecht, Staatsverträge, Bündnisse, heiligste Worte, höchste Autoritäten in Fetzen gerissen. Geschändet, entehrt, im Blute watend, von Schmutz triefend – so steht die bürgerliche Gesellschaft da, so ist sie.“
Für Rosa gibt es nur eine Möglichkeit, diese Gesellschaft von sich selbst zu befreien – und das ist die Revolution. Die aber ist für sie nicht das Zertrümmern und Zerschlagen des Vorgefundenen, vielmehr ist sie eine geistige Potenz, die „äußere Freiheit zur Entgröberung, innere Freiheit für Gott“ schafft, wie Ernst Bloch formuliert.
Nein, die mystische Rosa ist kein Hirngespinst, Alfred Döblin hat vielmehr eine spirituelle Dimension aufgespürt, die die Aura der Rosa Luxemburg ausmacht und von der auch heute noch ein eigentümliches Leuchten ausgeht. Verklärung und Verdammung liegen dicht beieinander. Süßliche Verkitschung und banale Heroisierung sind allen drei Frauen nicht erspart geblieben.
Was bleibt, räumt man den ideologischen Schutt beiseite, verzichtet man auf eine politische Instrumentalisierung? Die unter den Bedingungen der je eigenen Zeit gelebte Grunderfahrung, die darin besteht, daß man sich auf eine Grenzsituation einläßt, von der es kein Zurück mehr gibt. Eine Erfahrung, die Rosa Luxemburg, Hildegard von Bingen und Caterina von Siena zu Mystikerinnen macht.
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