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„Es stört nur noch die Woche Arbeit“

■ Alwin Schulte und Daniel Börsch profitieren jeder auf seine Weise vom Altersarbeitszeitmodell für Bremer Straßenbahner

in normaler Wochentag, 9 Uhr morgens. Alwin Schulte schlürft in aller Ruhe seinen Kaffee, bereitet seiner Frau das Frühstück und widmet sich anschließend ausgiebig der Lektüre seiner Tageszeitung. Alwin Schulte hat Zeit. Viel Zeit – ohne daß der 62jährige zu jenen gehört, mit denen man im Allgemeinen die Vorstellung verbindet, sie hätten Zeit im Überfluß. Alwin Schulte ist kein Rentner. Er ist nicht arbeitslos. Und es sind auch keine periodisch wiederkehrenden chronischen Erkrankungen, die ihn dazu zwingen würden, jede zweite Woche in seiner Findorffer Wohnung und eben nicht an seinem Arbeitsplatz hinter dem Steuer einer Straßenbahn zu verbringen. Alwin Schulte genießt die Vorzüge eines Altersteilzeitmodells, das die Bremer Straßenbahn AG (BSAG) seit Juni des vergangenen Jahres praktiziert.

BSAG-MitarbeiterInnen, die das 55. Lebensjahr vollendet haben, können auf Antrag TeilzeitarbeiterInnen (ATZler) werden. Ihre Bezüge aber halbieren sich dadurch nicht. Denn die Bundesanstalt für Arbeit stockt den Lohn, wie es das 1996 beschlossene „Bundesgesetzes zur Förderung eines gleitenden Übergangs in den Ruhestand“ vorsieht, auf 70 Prozent auf. Weitere 15 Prozent steuert die BSAG auf der Basis einer betriebsinternen Vereinbarung dazu. Voraussetzung ist allerdings, daß die BSAG für zwei ATZlerInnen einen arbeitslosen Menschen einstellt. Die BSAG kostet das nichts. Denn die Bezüge der Neueingestellten liegen laut Betriebsvereinbarung sechs Prozent unter den bis dahin üblichen Tarifeinstiegslöhnen. Und da die AZTlerInnen wegen ihres Alters in den höchsten, die neuen MitarbeiterInnen aber in den niedrigsten Einkommensgruppen liegen, finanziert sich diese Arbeitsumverteilung von selbst.

Von 560 BSAG-MitarbeiterInnen, die das vorerst bis 2001 laufende ATZ-Angebot in Anspruch nehmen könnten, haben 198 einen Antrag gestellt. 112 genießen bereits wie Alwin Schulte den Zugewinn an Freizeit. 56 ehemalige Arbeitslose, unter ihnen der 22jährige Daniel Börsch, freuen sich hingegen, daß sie sich nicht auf die berüchtigte „sozialen Hängematte“ zwangsbetten lassen mußten, sondern einer sinnvollen Beschäftigung nachgehen können.

Börsch stört es nicht, daß seine Bezüge infolge der Betriebsvereinbarung niedriger liegen als der ursprüngliche Einstiegslohn. „Ich habe einen Job. Das ist die Hauptsache“, sagt Börsch, der nach seiner Ausbildung als Tanzlehrer und anschließendem Zivildienst mit Blick auf die miesen Aussichten in seinem erlernten Beruf bereits mit einer längeren Phase der Arbeitslosigkeit gerechnet hatte. Seinem neuen Job als Straßenbahnfahrer kann er darüber hinaus positive Seiten abgewinnen. „Ich habe jetzt mehr Freizeit als früher, weil ich nicht wie zuvor jeden Abend und an den meisten Wochenenden arbeiten muß.“

Für Alwin Schulte war die Sorge um die Zukunft der Jugend hingegen kein Motiv, in Altersteilzeit zu gehen. Nach 40 Jahren Wechselschicht und stressigen Fahrten durch Bremens Straßenverkehr war die Sehnsucht nach Ruhe sein stärkster Antrieb. „Die nervliche Anspannung war zuletzt einfach enorm. Und die Zipperlein wurden auch nicht weniger.“ Seit September des letzten Jahres folgen für Schulte nun auf sechs Arbeitstage acht freie Tage. Etwa 250 Mark im Monat weniger hat er dadurch im Portemonnaie – ein deutlich entlastetes Nervenkostüm und mehr Zeit mit seiner ebenfalls teilzeitbeschäftigte Ehefrau sowie für die heißgeliebte Kleingartenparzelle stehen dafür auf der Habenseite. „Was jetzt wirklich noch stört“, sagt Schulte, „das ist die eine Woche Arbeit.“

Zumal die Anlaufschwierigkeiten des Modells, wo Schulte aufgrund von Koordinationsproblemen ständig auf der Linie 26 eingesetzt wurde, mittlerweile abgestellt sind. Lange schlafen, spät ins Bett gehen, eine wieder etwas lebhaftere Kugel im Sportkegelclub schieben – Schulte lebt in der freien Woche zuweilen so, „als wäre ich im Urlaub.“ Und da er die finanziellen Einbußen verschmerzen konnte und niemals mit seinem Job verheiratet war – wie einige KollegInnen, die das ATZ-Angebot ausgeschlagen haben – kann Schulte an seinem neuen Leben schlicht nichts Nachteiliges finden. Daß er nun manche KollegInnen seltener oder gar nicht mehr sieht, bedauert er zwar. „Aber als Fahrer arbeitet man sowieso überwiegend alleine.“

Alles wundervoll also? Eine Erfahrung, die Martina Flathmann bestätigt. Obwohl die für die ATZlerInnen zuständige Personalsachbearbeiterin nicht damit gerechnet hat. „Ich habe geglaubt, die Kollegen würden häufiger über Langeweile klagen oder Selbstwertprobleme nach dem Motto ,halbe Kraft – halber Mensch' haben.“ Haben sie aber nicht. Was Flathmann auch darauf zurückführt, daß sie mit jedem der 300 ATZ-Interessierten ein ausführliches Gespräch geführt hat. Dort hat sie die möglichen Konsequenzen für den Einzelnen benannt, so daß sich immerhin ein Drittel von der Idee wieder verabschiedet hat.

Aber für die, die sich für die Altersteilzeit entschieden haben, waren dann selbst die Aussicht auf mögliche Rentenabzüge von bis zu 18 Prozent kein Hinderungsgrund. „Je nach Baujahr des Kollegen macht das immerhin 300 Mark im Monat aus.“ Mittlerweile entwickelt das ATZ-Modell gar eine Eigendynamik. „In der Belegschaft hat sich rumgesprochen, daß die ATZler gute Erfahrungen machen“, sagt Flathmann. Einige, die nach der ersten Unterredung noch abgewunken hatten, bitten sie nun erneut um einen Gesprächstermin. Das Interesse geht dabei quer durch die Belegschaft, zumal in jeder Abteilung andere Arbeitsmodelle ausprobiert werden. „Die Hälfte der Kollegen arbeitet im Rhythmus von Herrn Schulte. Manche arbeiten die Hälfte der Woche. Andere nehmen sich z.B. nach vier Wochen oder sechs Monaten Arbeit im Anschluß die entsprechende Zeit frei.“ Je nachdem, wie die individuellen Voraussetzungen und die Gegebenheiten in der jeweiligen Abteilung es erfordern. Da wundert es nicht, daß unter den älteren KollegInnen der Satz: „Geh doch mal nach oben“ bereits ein geflügeltes Wort ist. Denn oben – da sitzt Martina Flathmann. zott

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