piwik no script img

Kampf auf den Erdbebentrümmern

Die Taliban und ihre Gegner lehnen selbst in der afghanischen Unglücksprovinz Tokhar eine Feuerpause ab  ■ Von Thomas Ruttig

Berlin (taz) – Nicht einmal das zweite Erdbeben binnen vier Monaten kann die verfeindeten Parteien in Afghanistan dazu bringen, das Feuer einzustellen. Masud Khalili, Indien-Botschafter des von den Taliban vertriebenen „Interimspräsidenten“ Burhanuddin Rabbani, erklärte gestern, dessen Truppen seien am Montag – fast zwei Tage nach dem Beben – auch in der betroffenen Provinz Tokhar von den radikalislamistischen Taliban angegriffen worden. Diese beschuldigten Rabbanis Leute von der Nord-Allianz, mit den Kämpfen angefangen zu haben. Beide Seiten schlossen auch für die kommenden Tage eine wenigstens befristete Waffenruhe aus, meldete die britische Rundfunkanstalt BBC. Bei dem Beben sind mindestens 4.000 Menschen ums Leben gekommen, 45.000 haben ihr Zuhause verloren.

Die Taliban wollen nicht einmal den Opfern im gebirgigen Nordosten Afghanistans helfen. Das Gebiet liegt im Machtbereich ihrer Gegner. „Wir haben nicht die Absicht, Hilfsgüter in die Region zu entsenden“, erklärte Taliban-Informationsminister Mulla Amir Khan Mutagi gestern vor Journalisten in Kabul lakonisch. Das war beim Beben im Februar noch anders. Damals hatten die Taliban einen ziemlichen Rummel um ihre Lieferungen für ihre „lieben afghanischen Landsleute“ gemacht.

Die Positionen beider Seiten haben sich verhärtet, seit Ende April ein Vermittlungsvorstoß des US-Botschafters bei der UNO, Bill Richardson, zunächst Hoffnung erzeugt hatte, dann aber im Sande verlaufen war. Vor kurzem kündigten die Taliban sogar die einzige Vereinbarung dieses Treffens auf, zur weiteren Friedenssuche ein Komitee aus je 20 Geistlichen beider Seiten zu etablieren.

Danach starteten sowohl die Taliban als auch die gegnerische Nord-Allianz militärische Offensiven. Beobachter sprachen von den härtesten Kämpfen seit zehn Monaten. Eines der Schlachtfelder war die Bebenprovinz Tokhar. Dort beginnen die Nachschubwege für die Kämpfer von Rabbanis Verteidigungsminister Ahmad Schah Masud, die sich im Panjschir-Tal nördlich von Kabul verschanzt haben und von dort aus die Hauptstadt bedrohen. Im Mai verlor Masud im Dreieck der Provinzen Tokhar, Baghlan und Kunduz drei Distrikte und kann seither nur noch aus der Luft oder über seinen Verbündeten Tadschikistan versorgt werden.

Die Taliban bombardierten auch Stellungen Masuds 25 Kilometer nördlich von Kabul. Dieser revanchierte sich mit Raketensalven auf den hauptstädtischen Flughafen. Dabei schlugen erstmals seit Monaten Geschosse auch wieder in Wohngebieten ein – wie beim Taliban-Bombardement des Rabbani-Hauptquartiers Taloqan (Provinz Tokhar) vor zwei Wochen, als ein Basar getroffen wurde und Dutzende Menschen starben.

Eine Offensive Masuds richtete sich von Tokhar aus auf die Provinz Kunduz weiter westlich. Dort beherrschen etwa 2.000 Taliban- Kämpfer eine Enklave auf dem Gebiet der Nord-Allianz, die ansonsten weitgehend die Grenzgebiete Afghanistans zu den GUS- Staaten Turkmenistan, Usbekistan und Tadschikistan kontrolliert. Schon zweimal versuchten sie von dort aus vergeblich, die inoffizielle Hauptstadt der Taliban-Gegner, Mazar-e Scharif, einzunehmen.

Kunduz konnten die mehrheitlich paschtunischen Taliban nur einnehmen, weil dort stationierte Einheiten des einstigen Mudschaheddin-Führers und Pakistan- Lieblings Gulbuddin Hekmatyar – meist auch Paschtunen – zu ihnen überliefen. Hekmatyar selbst hatte sich nach der Eroberung Kabuls 1996 durch die Taliban, ebenfalls durch Überläufer aus seinen Reihen ermöglicht, nach Iran abgesetzt und das Geschehen aus der Entfernung verfolgt. In den letzten Wochen trat er wieder in Kontakt zur Anti-Taliban-Allianz und tauchte sogar in Mazar-e Scharif auf. Doch besonders sein Erbfeind aus dem Krieg gegen die sowjetische Besatzung, Ahmad Schah Masud, betrachtet diese Avancen mit Mißtrauen. Er wittert in Hekmatyar zumindest einen unsicheren Kantonisten, wenn nicht sogar ein Trojanisches Pferd der Taliban.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen