Nach der Katastrophe von Eschede: Bahn zieht Notbremse für ICE-Züge

■ Hochgeschwindigkeitszüge dürfen zunächst nur mit 160 Stundenkilometern fahren. Bis gestern abend wurden 92 Tote an der Unglücksstelle geborgen. Entgleiste ein Wagen schon fünf Kilometer vor der eingestürzten Brücke?

Hannover/Berlin (taz) – Die Deutsche Bahn bremst sämtliche Hochgeschwindigkeitszüge: Seit gestern dürfen ICE nur noch mit 160 Stundenkilometern fahren. Damit reagierte die Deutsche Bahn AG auf das Zugunglück am Mittwoch vormittag bei Eschede, bei dem mindestens 92 Menschen starben und 60 verletzt wurden. Gestern nachmittag waren Helfer noch immer damit beschäftigt, eine mindestens 200 Tonnen schwere Betonplatte zu entfernen, die nach dem Aufprall des ICE auf einen Brückenpfeiler auf einen Waggon des Zuges gestürzt war. Darunter werden weitere Leichen befürchtet.

Der Münchner Bahnexperte Karlheinz Rößler hält eine Geschwindigkeitsbegrenzung für unsinnig, weil die Entgleisungsgefahr von Zügen bei höherem Tempo sogar abnimmt. Die Beruhigungsmaßnahme für die Kunden soll heute schon wieder aufgehoben werden, falls bei der Untersuchung sämtlicher ICE-Züge über Nacht keine technischen Mängel festgestellt werden.

Um die Klärung der Unfallursache bemüht sich jetzt eine Sonderkommission von Polizei, des Eisenbahnbundesamtes und der Bahn AG. Als sicher gilt inzwischen, daß das Unglück nicht durch ein herabstürzendes Auto verursacht wurde. Experten gingen gestern davon aus, daß ein Wagen des ICE „Wilhelm Conrad Röntgen“ schon vor dem Aufprall auf die Brücke entgleist ist. Darauf deuteten die Geräusche hin, die Passagiere vor dem Unglück wahrgenommen haben, berichtete Wolfgang Fengler vom Braunschweiger Institut für Eisenbahnsicherheit der taz. Überlebende hätten von Krach wie beim Abladen von Steinen und einem anschließenden Knall berichtet. Nach Auffassung von Fengler kann ein entgleistes Drehgestell eines ICE-Wagens, das über die Betonschwellen holperte, solche Geräusche erzeugen. Inzwischen wurden fünf Kilometer vor dem Unfallort Schäden am Gleisbett entdeckt. Ein dort entgleister Wagen könnte bis zu einer Weiche kurz vor der Brücke mitgezogen worden sein, sich dann quergestellt haben, worauf der Zugteil hinter dem Wagen gegen die Betonpfeiler prallte. So lautete gestern die wahrscheinlichste Variante des Unfallhergangs.

Bahnangestellte überprüfen die Gleise der Hochgeschwindigkeits- und Ausbaustrecken regelmäßig mit Ultraschall auf Schäden. Auch Räder und Drehgestelle der ICE-Züge werden allabendlich gecheckt. Nach etwa 3.500 gefahrenen Kilometern steht zudem eine Kontrolle in einem ICE-Betriebswerk an.

Jürgen Voges/Anne Barthel

Tagesthema Seiten 2 und 3