: „Ich bin ein richtiger Bus-Fan geworden“
Wenn wegen Raserei oder Suff plötzlich der Führerschein kassiert wird, machen die Menschen sehr unterschiedliche Erfahrungen: Nahverkehrslust, Amputationsphantasien, Weltuntergang. Und der Verkehrstherapeut mahnt ■ Von Bernd Müllender
„Setzen lohnt erst gar nicht“, sagt Gabriele B., „jetzt ist Rush- hour, da kommt jede Minute einer.“ Wir warten dann gut fünf Minuten am Bus-Wartehäuschen – „na ja!“ lacht die 38jährige Hochschulsekretärin, „der typische Vorführeffekt halt“.
Kaum sind wir losgefahren, schwärmt sie ohne Pause vom öffentlichen Nahverkehr, als wäre sie PR-Managerin des ÖPNV – wie gut das per Bus klappt zur Arbeit und zurück jeden Tag, wie freundlich die Fahrer seien, daß man nette Menschen treffen kann, daß alles so relaxt zugehe. „Ich war eigentlich immer eine leidenschaftliche Autofahrerin“, sagt sie und wirkt mit ihrem dezenten Chic im Linienbus annähernd overdressed, „aber jetzt bin ich ein richtiger Bus-Fan geworden.“
Das hätte man ihr mal an jenem Wochenende vor Karneval sagen müssen! Da hatte B. ein kleines Vorortmassaker angerichtet: Nach einer großen Feier gab es kein Taxi, und sie war in der ersten Dämmerung an ihrem zuvor abgestellten Astra vorbeigekommen. „Ach, da isser ja, hab' ich gedacht und bin halt zurückgefahren die paar Kilometer nach Hause. Ich war totmüde, und hundert Meter vor meinem Haus muß ich einen Moment eingenickt sein. Dann hat es nur noch gerumst. Die anderen Wagen mußten alle abgeschleppt werden. Die Nachbarn gleich in den Fenstern. Und ich hab' nur noch geheult.“
Dann kam noch der Spott. Die Lokalzeitung schlagzeilte tags darauf: „Vier Autos am Straßenrand demoliert.“ Gabriele B.: „Das war so peinlich. Ich hab' mich so geschämt, jeder hier im Ort wußte doch, daß ich das war.“ Ein Bekannter meinte: „Ich dachte, du kennst die Strecke im Schlaf...“ Und mittags rief einer an: „,Hey, mach mal das Radio an, da biste jetzt auch drin.‘ War ja wirklich sehr lustig, aber ich war tagelang nur deprimiert.“ Der Bluttest ergab 1,15 Promille, der Führerschein wurde eingezogen – das geht bei Alk-Fahrten automatisch.
Das Verfahren steht noch bevor, aber Gabriele B. weiß, daß sie vermutlich ein Jahr lang kein Auto wird fahren dürfen. „Ehrlich gesagt, finde ich solch eine Strafe auch gerecht“, sagt sie, „was sollen die sonst mit so einem Idioten wie mir machen...“ Teuer wird es womöglich auch, weil die Haftpflichtversicherung die Sachschäden von über 30.000 Mark nicht zahlen will.
Besser wurde es, als sie auf Suche nach Alternativmobilität im Büro der Aseag, den Aachener Verkehrsbetrieben, vorsprach. „Monatskarte? Mit oder ohne?“ hatte der Kassierer gefragt. Mit was, hatte B. irritiert gefragt. Alkohol oder nicht, hatte der geantwortet. „Mit, hab' ich gesagt und gemerkt, es gibt noch mehr Opfer wie mich. Selbstverschuldete Opfer.“
Gabriele B.s Schuldbewußtsein ist wenig typisch. Der normale Raser oder Alkoholsünder fühlt sich gern unschuldig verfolgt, ungerecht behandelt, ist schimpffreudig und bagatellisiert gern alle Schuld („Es gab ja keine Toten“). Peter Schmidt, ein Exfahrlehrer, kümmert sich um solche Menschen.
Der 44jährige ist Verkehrstherapeut – mit Büros in Aachen, Karlsruhe, Leipzig und München. Gegen ein paar hundert Mark Honorar macht er fit für die MPU, die Medizinisch-Psychologische Untersuchung, die rund 100.000 Menschen pro Jahr bevorsteht, wenn sie wieder in den Kreis der Fahrberechtigten zurückkehren wollen – und die örtliche Durchfallquoten von über 80 Prozent hat.
Schmidt bietet keine vordergründigen Crashkurse, sondern will „testfähig machen, zum Lernen anregen, etwas bewußt machen“, wie er als Psychologe sagt. „Und das notfalls ganz brutal“, wie er manchmal droht in seinem gezielt kargen Büro, das keine überbordenden Bücherborde als Sinnbild für Wissensmacht braucht. „Man muß zunächst Unrechtsbewußtsein schaffen, ganz banal manchmal.“
Schmidts Argumentationstraining läuft etwa so: Was ist ein guter Autofahrer? ... So, so, und was sind Sie? Fahren Sie eigentlich besser als Ihre Frau? Ach, und wieso sind Sie dann hier und nicht sie...? Es gebe, sagt Schmidt, „haarsträubende Rechtfertigungen“ für Alkoholfahrten und Raserei, manche Leute hätten „wirklich schwere innere Defekte“.
Schmidt weiß, wie eindimensional viele oft denken: Hauptsache der Schein komme bald zurück, alles andere sei egal. Er erzählt die kuriosesten Fälle. Von jenem Ostdeutschen etwa, der sich kurz nach der Wende zum Autohändler erklärte, diverse Wagen zum Verkauf ohne Nummernschilder an den Straßenrand stellte, die Weisungen der Polizei ignorierte, schließlich irgendwelche Schilder dranschraubte, weiterhin alle Mahnungen in den Wind schlug und dann wegen dutzendfacher Urkundenfälschung so viele Punkte in Flensburg bekam, daß sein Führerschein eingezogen wurde. „Und dann glaubt er noch, das war alles nur Schikane.“
Schmidt kennt das Jammern der Menschen über das Leben ohne. „Viele glauben ja, sie überleben es nicht und fühlen sich subjektiv kastriert.“ Aber da sei auch das Gegenteil: „Wirklich reiche Leute, so Schickeria in München“, die seien plötzlich „vom U-Bahnfahren völlig begeistert“. Oder die Spezies der „wichtigen Geschäftsleute“. Für viele sei es objektiv eine kleine Katastrophe. Aber manche „lernen durch den Entzug erst ihre Scheuklappen kennen“. Wie etwa jener Firmenchef, „der jetzt zwangsweise einen Chauffeur hat und merkt, wieviel er streßfrei beim Fahren erledigen kann. Der will auch danach nicht mehr selbst lenken.“
Klaus Arenz ist ein solch vielbeschäftigter Geschäftsmann. Rückblick: Es ist der 1. Mai 1997. Der Unternehmensberater verläßt mit Gattin Monika und Tochter Alina das schmucke Haus am Waldesrand im rheinischen Geilenkirchen-Immendorf. Im Mercedes 300 CE soll es zum Duisburger Zoo gehen. Familienausflug. Kurz vor Neuss, auf der Autobahn A44, queren die Arenzens eine Baustelle. Tempo 80. Da passiert es. Es sei „so was von unnatürlich“ gewesen, erinnert sich der 43jährige Arenz, „alles war frei, null Betrieb, leer, und dann haben sich die Jungs auch noch hinter so einem Lärmschutzwall versteckt und geschossen“. Arenz wird „mit 132 geknipst“.
Es folgten ein Bußgeldbescheid 200 Mark, ein Monat Fahrverbot. Viel, wenig? Manchmal scheint das Gesetz weniger streng als man denkt: Erst bei 40 Stundenkilometer über Maximum (innerorts 30) gibt es automatisch ein Fahrverbot. Arenz legt dennoch Widerspruch ein, er sei doch gar nicht selbst gefahren. „Dann kam so ein Dorfsheriff hier vorbei, hat alles aufgenommen und meine Tochter ganz hinterrücks gefragt, ob daß ihr Vater auf dem Foto ist...“ Die Zehnjährige erkannte Papa zweifelsfrei, und Anfang des Jahres folgte die Gerichtsverhandlung in Neuss. „Ich hab der jungen Richterin schöne Augen gemacht“, rekonstruiert Arenz seine Prozeßstrategie, „half aber alles nichts.“
Im März mußte Arenz wieder nach Neuss, um bei Gericht persönlich den Führerschein abzugeben. Er kam durch, ungeblitzt. Zurück fuhr ein Bekannter. Danach fuhr Arenz zwei Wochen in Urlaub. Blieben genau 14 Tage ohne. Seinem Anwalt gegenüber faßte er später seine Erfahrungen in einem Wort zusammen: „Weltuntergang.“ Der sah so aus: „Ich bin abhängig vom Auto. Ich bin dauernd unterwegs zu Baustellen, Firmen ins Umland. Nebenher manage ich einen Fußballverein. Das ging alles nur mit Taxi, oder ich mußte mich chauffieren lassen. Es war lästig, immer wen um sich zu haben, man muß immer wen bitten. Das ist wie gehbehindert, wie beinamputiert: Da steht der Wagen in der Garage, aber es geht nicht, du darfst nicht. Furchtbar.“
Anderen gegenüber hat Arenz das führerscheinlose Dasein nicht vertuscht. „Ach, das passiert doch heute jedem dritten. Die haben sich alle mit mir gefreut. Da wird gehänselt, geärgert, alle sind so schadenfroh. Aber ich würde es andersherum genauso machen.“ Positives? Arenz muß überlegen. Dann fallen ihm drei Dinge ein. „Das erste Mal danach war was ganz Tolles.“ Und: „Abends passe ich mehr auf mit Alkohol. Und man achtet mehr auf Tempobeschränkungen, fährt vorsichtiger, zumindest im grünen Bereich, also nie schneller als 20 drüber.“
Grüner Bereich? Damit dürfte Arenz dem Brummbrummtherapeuten Schmidt nicht kommen. Der würde den Zeichenblock nehmen, den Stift und ihm sein banales Standardbeispiel mit dem Kind aufmalen. Und diese Frage stellen: „Sie fahren vorschriftsmäßig genau 50, und 40 Meter vor Ihnen springt ein Kind auf die Straße, Sie bremsen, bleiben genau davor stehen. Okay! Aber was wäre, wenn sie 63 gefahren wären, also nur etwas schneller, so ein eigentlich toleriertes Tempo?“ Viele, sagt Schmidt, tippten auf zirka 20 Stundenkilometer Kollisionstempo. „Sie können das nachrechnen: Sie rasen, wegen der Reaktionszeit, mit 45 in das Kind hinein. Mit 45.“
Schmidts Klienten bekommen danach die schriftliche Hausaufgabe: „Ich habe heute ein Kind zum Krüppel gefahren. Wie geht es weiter mit mir...?“
Gabriele B. sagt, schon nach wenigen Wochen habe sich soviel geändert. „Ganz andere Welten“ täten sich manchmal auf ohne das einst so selbstverständliche Auto. Neulich sei sie mit dem modernen Interliner nach Maastricht gefahren. „Toll, wie Urlaub“ habe sich das angefühlt. Ständig entdecke sie neue Wege, witzige Geschäfte, Häuser, nette Eckchen, die sie in der Fahrroutine per Auto nie hätte wahrnehmen können.
Und gerade noch hat sie sich mit so einer jungen Studentin heftig gestritten, die jammerte, ihr Auto sei nicht durch den TÜV gekommen. „Vor einem halben Jahr hätte ich noch mitgejammert, jetzt kann ich nur den Kopf schütteln“, sagt Gabriele B.: „Auch wenn ich wieder fahren darf, für die Arbeitsstrecke tu' ich mir den Wagen nicht mehr an. So ein Unfug. Und die Garage oben an der Hochschule hab' ich auch schon gekündigt.“ Man muß halt erst mal die Erfahrung machen ohne.
Manche indes machen sie auch dann nicht, wenn sie müssen. Peter Schmidt, der Verkehrstherapeut: „Sie glauben ja gar nicht, wie viele von den Führerscheinlosen zu den Seminarterminen mit ihrem Wagen kommen.“
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