: Der Mythos von der Natur
Vor allem in Deutschland wurde die Biologin Evelyn Fox Keller oft falsch verstanden. Über Gentechnik, Feminismus und die Deutungsmacht an den Universitäten sprach mit der Wissenschaftsforscherin ■ Stefan Löffler
taz: Wie fanden Sie die Ausstellung „Genwelten“ hier am Hygiene-Museum in Dresden?
Evelyn Fox Keller: Sie hat mir gefallen.
Haben Sie nicht einige der Konfliktlinien zur Genetik und Gentechnik vermißt?
Das haben viele Teilnehmer der Tagung gesagt. Ich glaube, in den Vereinigten Staaten ginge eine derartige Ausstellung noch weniger auf die Konflikte ein. Ich habe hier einige Stellen gesehen, wo der genetische Determinismus vermieden wurde. Aber die Abhängigkeit der Forschung von wirtschaftlichen Interessen kommt zu kurz.
Warum erwähnen Sie gerade das?
Weil das schon vor zehn Jahren zu kurz kam, als es um die Milliardeninvestitionen in die Sequenzierung des menschlichen Genoms ging. Drei Themen haben die Debatte geprägt. Das erste, den Reduktionismus der Genetik, hat die biologische Forschung mittlerweile selbst untergraben. Der Eingriff der Gentechnik in die Natur ist heute gerade noch in Deutschland ein Thema. Daß die Natur natürlich ist, ist ein Mythos. Wir Amerikaner sind inzwischen nicht mehr überzeugt, daß natürliche Lebensmittel unbedingt bessere Lebensmittel sind. Auch in der Eugenikdebatte sind die Vereinigten Staaten mittlerweile weiter als Deutschland. Zunächst war da übermäßig vereinfacht und die ganze Eugenik über einen Kamm geschoren worden. Man ignorierte, daß die Auswüchse der Nazieugenik oder der frühen Eugenik in den Vereinigten Staaten auf Zwang basierten. Ein gewisses Interesse an Eugenik ist ganz natürlich...
...wie ist das jetzt zu verstehen?
Wollen wir nicht alle, daß unsere Kinder gute Gene bekommen? Es kommt aber darauf an, was das genau bedeutet, und deshalb müssen wir darüber diskutieren dürfen.
Einverstanden. Aber zurück zur wirtschaftlichen Abhängigkeit der Genforschung, von der Sie anfangs sprachen.
Es ist nahezu unmöglich geworden, zwischen den Interessen der Forschung und des Marktes zu unterscheiden. Die Molekularbiologen der ersten Generation erkennen ihr Forschungsgebiet nicht mehr wieder. Wer Aufsätze liest, findet, daß Erklärung zum Synonym geworden ist für Manipulierbarkeit. Es kommt darauf an, was man im Labor alles anstellen kann. Es geht mehr und mehr darum, cents zu machen als sense.
Wissenschaftler behaupten aber nach wie vor, es gehe um Erkenntnis.
Nicht einmal das. Nehmen wir Ian Wilmut. Als er voriges Jahr das Schaf Dolly vorstellte, beschrieb er seine Leistung als Transfer des Zellkerns. Seit fünfzig Jahren dachte man, Zellkerntransfer funktioniere nicht bei Säugetieren. Sowohl in der Einleitung als auch in der Schlußfolgerung seines Artikels in Nature sprachen Wilmut und seine Mitarbeiter von Zellkerntransfer. Aber was sie im technischen Teil beschrieben haben, ist Zellfusion. Sie nahmen eine Zelle mit Kern und verschmolzen sie mit einer Zelle ohne Kern, also mit Zytoplasma. Hält man ihnen vor, daß Zellkerntransfer nicht das gleiche ist wie Zellfusion, fragen sie: Wo liegt der Unterschied? Als Erklärung hat Zellkerntransfer allen genügt. Aber mit einem Zellkern allein geht nichts.
Der von Wilmut behauptete Zellkerntransfer wäre wohl auch ein Beispiel für den Reduktionismus in der Biologie, den Sie in Ihrem auf deutsch vorliegenden Buch „Das Leben neu denken“ sezieren.
Das sind Vorlesungen, die ich 1993 an der University of California gehalten habe...
...wo Sie andererseits festgestellt haben, daß kybernetische Denkbilder an Bedeutung gewinnen.
Die neue Leitmetapher ist das Internet. Teils, weil die Wissenschaftler das Internet viel benutzen. Teils durch neue Arbeiten in der Biologie selbst. Es ist jetzt oft die Rede von Interaktivität und verteilter Intelligenz. Das soll in etwa heißen, die Kontrolle über das Leben steckt nicht in den Genen, sondern in der Zelle als ganzes, daß es im Zytoplasma einen ganzen Apparat gibt, auf den es ankommt, und daß die Proteine intelligent sind, vielleicht sogar intelligenter als die DNS.
Worüber haben Sie geforscht, bevor Sie durch Ihre Arbeiten über soziales Geschlecht und Wissenschaft bekannt wurden, also in den sechziger Jahren?
Das war eine schwierige Zeit für eine Frau in der Naturwissenschaft. Ich war Doktorandin in Harvard. Unter hundert Doktoranden in Physik gab es nur drei Frauen, und ich war die einzige in Theoretischer Physik. Ich fand niemand, mit dem ich über mein Promotionsthema reden konnte. Man sagte mir direkt ins Gesicht: Theoretische Physik ist nichts für Mädchen. Der Leiter des Fachbereichs wußte von meinem Problem. Also wurde mir erlaubt, über ein molekularbiologisches Thema zu promovieren. Um 1960 war es nicht unüblich, daß Physiker in die Molekularbiologie wechselten. Wally Gilbert, ein Theoretischer Physiker, der ebenfalls diesen Schritt machte und später den Nobelpreis bekam, war formal mein Begleiter. Aber wir haben so gut wie nicht zusammen gearbeitet. Ich machte meine Experimente zu einer Fragestellung, die ich selbst entwickelt hatte. Eigentlich lag mir die Laborarbeit nicht. Die Molekularbiologen um mich herum waren unheimlich ehrgeizig, es war ein ständiger Wettlauf. Ich publizierte lieber wieder in Theoretischer Physik und nahm eine Stelle an der New York University an.
Kam da noch die verspätete Anerkennung der Männer von Harvard?
Nein, natürlich nicht. Ich wechselte nach und nach in ein brandneues Forschungsgebiet, die Biomathematik. Da hatte ich einige sehr erfolgreiche Aufsätze...
...auf die Sie bis heute stolz sind?
Oh ja. Denn ich habe kürzlich im „Science Citation Index“ nachgeschlagen. Meine späteren Studien über soziales Geschlecht und Wissenschaft, die mich so berühmt gemacht haben, werden von Naturwissenschaftlern anscheinend kaum gelesen. Aber meine Aufsätze in Biomathematik werden immer noch zitiert. Zwei Keller-Segel-Modelle sind bekannt. Mein damaliger Kollege und Co-Autor gilt heute als Vater der Biomathematik.
Dann wären Sie die Mutter.
Weil ich eine Frau bin, nahmen damals alle an, ich wäre Segels Schülerin. Ich konnte auch nicht so oft wie er zu Konferenzen. Ich hatte Kinder, die noch sehr jung waren.
Warum haben Sie das aussichtsreiche Fachgebiet wieder verlassen?
Die Siebziger hatten begonnen. Der Feminismus blühte auf. Die siebziger Jahre waren so viel aufregender als die sechziger. Ich wechselte zur State University of New York in Purchase. Dort konnte ich unterrichten, was ich wollte: Ich gab Seminare über Denken und Bewußtsein, über Mathematik, Kreativität und Frauenforschung. Ich schrieb über meine Erfahrung als Doktorandin und begann, über den Zusammenhang zwischen Geschlecht und Wissenschaft nachzudenken. Das Grundproblem war für mich ideologischer Art, nämlich wie Vorstellungen, was wissenschaftlich ist und was männlich ist, miteinander verknüpft waren. Diese Ideologie wollte ich unterwandern. Ich suchte eine Antwort auf meine eigene Hinundhergerissenheit. Ich liebte die Wissenschaft und haßte sie zugleich. Nein, schreiben Sie das nicht. Jemand wird sagen, da steht es schwarz auf weiß: Sie haßt die Wissenschaft. Schreiben Sie, ich liebe das Streben, die Welt zu verstehen, und ich hasse den Szientismus, diese Tendenz, alles zum Objekt zu machen.
Heute sind Sie Professorin für Wissenschaftsgeschichte und -philosophie. Steckt hinter dem Wechsel der Fakultät ein Mentor oder eine Gruppe?
Niemand außer mir selbst. Ich habe mich im akademischen Leben oft neu erfunden. Die Fragen, die ich damals stellte, fand ich nirgends sonst. Weil die Leute wissen wollten, was ich eigentlich tue, taufte ich es Psychosoziologie des wissenschaftlichen Wissens. Der Begriff blieb nicht haften, denn es gab kein Wir. Der Feminismus war mein Wir.
Wie wird Ihre Arbeit von Feministinnen interpretiert?
Einige meiner Bücher wurden besonders in Deutschland anders gelesen, als ich es beabsichtigt habe. Merkwürdigerweise sind die Rezensionen zunächst ganz korrekt. Je mehr Leute meine Bücher lesen, desto mehr Mißverständnisse entstehen und machen die Runde. Feministinnen benutzten mein Buch „Reflections on Gender and Science“ als Argument, daß Frauen in den Naturwissenschaften nichts verloren hätten. Ich wollte genau das Gegenteil, nämlich Naturwissenschaftlerinnen ermutigen. Mein voriges Buch über Barbara McClintock wurde genauso falsch interpretiert. Ihre Art, sich in die Organismen, die sie erforschte, hineinzufühlen, wurde verstanden als weibliche Art, Wissenschaft zu betreiben. Ich habe ein Problem damit, Gefühle von vornherein als weiblich einzustufen. Genau das wollte ich auflösen. Ich wollte zeigen, wie Gefühle ganz allgemein im Erkenntnisprozeß helfen können, bei Männern und Frauen.
Haben Sie versucht, das klarzustellen?
Ich habe das viele Male klargestellt. Als „Reflections on Gender and Science“ vor einigen Jahren auf englisch neu erschien, habe ich ein Vorwort ergänzt. Ich habe gerade erfahren, daß im Mai auch eine neue deutsche Taschenbuchausgabe kommt – ohne dieses Vorwort.
Sie haben einmal gesagt, Ihre Arbeit über Geschlecht und Wissenschaft habe Sie weniger über Frauen gelehrt als über Männer.
Ja, und interessanterweise fällt es Männern in den Naturwissenschaften oft leichter, über soziales Geschlecht zu diskutieren. Einige hoffen so ihre unterdrückten weiblichen Anteile zu entdecken und betrachten mich als eine Art Verbündete. Naturwissenschaftlerinnen reagieren nicht so locker. Sie empfinden die Geschlechterfrage als riskant für ihre Karriere. Freilich gibt es immer wieder ein Sprachproblem: Für Biologen sind biologisches und soziales Geschlecht ein und dasselbe, während eine Feministin gerade auf diesen Unterschied pocht.
Sie schreiben über Christiane Nüsslein- Volhard, die 1995 den Medizinnobelpreis miterhielt, sie werde von US-Wissenschaftlerinnen als Heldin verehrt, aber erhalte kaum Anerkennung in Deutschland. Haben Sie eine Erklärung dafür?
Als ich eine Woche in ihrem Labor verbrachte, bekam ich Besuch von einigen deutschen Feministinnen. Sie waren schockiert, daß ich mich für Christiane Nüsslein-Volhard interessierte. Für die Frauen war sie eine Feindin, einfach nur, weil sie eine erfolgreiche Naturwissenschaftlerin ist. Der Feminismus ist hier enger verbunden mit Ökoideologien, mit Technikfeindlichkeit und Skepsis gegenüber Wissenschaft. Förderquoten für Frauen werden dagegen nicht so wichtig genommen wie in den Vereinigten Staaten. Dabei ist der Anteil der Frauen in der Forschung hier eine Katastrophe. Interview: Stefan Löffler
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