: Die Realität der Fiktion von 1968
■ In Wien zeigte "That Magic Moment - 1968 und das Kino" nicht nur die revolutionäre, sondern auch die industrielle Filmproduktion
„La chinoise“ von Jean-Luc Godard, 1967: Rückblickend betrachtet ein höchst verwirrender Film, da er von seiner politischen und ästhetischen Terminologie her eine gewisse Anzahl von 68er Verhaltensmodi glaubwürdig zu dokumentieren scheint, welche er tatsächlich jedoch vorwegphantasierte. Einer der letzten Sätze aus „La chinoise“: „Gut, es ist Fiktion, aber es hat mich der Realität nähergebracht.“
Filme waren in jenem verzauberten Augenblick, den die Wiener Filmschau „That Magic Moment – 1968 und das Kino“ thematisierte, von manchmal prophetischer und antizipatorischer Natur. „Man könnte glauben, es habe erst den Mai 68 gegeben, und dann wären in seinem Fahrwasser Filme entstanden. Aber so ist es nicht“, schreibt der französische Regisseur Luc Moullet in dem vorzüglichen Begleitbuch zur Reihe, die als Viennale-Special angekündigt war.
Und wenn es so nicht ist, wie ist es dann? Noch einmal Luc Moullet: „Es war eine Osmose, ein gegenseitiges Durchdringen: Bald gab das Leben den Ton an, bald das Kino. (...) Die im Mai 1968 praktizierten Kampftechniken – vor allem das Sit-in – waren drei Monate zuvor bei einer Demonstration gegen die beantragte Entlassung von Henri Langlois, dem Leiter der Cinemathèque Française, erstmals erprobt worden. (...) Ein Ereignis, dessen man sich in der Kinowelt sehr rühmte, der man bis dahin immer vorgeworfen hatte, sich abseits des wahren Lebens und der sozialen Kämpfe zu halten. Dieses eine Mal hatte eine große revolutionäre Bewegung im Rahmen eines kinematographischen Konflikts begonnen. Die Realität erreicht die Welt der Fiktion.“
1968, so läßt sich nach der Besichtigung des aus 40 Filmen bestehenden Panoramas sagen, bedeutet nicht den immensen Zeitsprung. Es war eher das Jahr der Möglichkeitsform. Zum Tragen kam, was der Underground-Filmer Jonas Mekas in seiner langen Dokumentation „Diaries, Notes and Sketches“, die zugleich ein Experiment mit sich selbst und dem Material war und in der das Bedeutende und das Alltägliche, das Private und das Öffentliche, das Große und das Geringe ineinanderflossen und im Betrachter eine eigene Bewegung von Glück und Dramatik wachriefen, so beschrieb: „In New York war noch Winter, aber der Winter war voller Frühling.“ Ein Film wie der Gruß an Freunde; keine Visitenkarte, die man jedem Beliebigen gibt. Blick zurück, weder im Zorn noch verklärend. Was sich aus diesem Jahr gewiß nicht machen läßt: eine Parade großer Filme mit großen Bildern und großen Gedanken zu großer Zeit. Statt dessen: ein posthumer Lagebericht.
Eine Zeugnissammlung, die von der Vitalität jener Jahre zeugt, wobei unvermeidlich ist, daß diese Vitalität auch seltsame Blüten trieb. Träumerische Lebensentwürfe und radikale Gegenwelten, melancholisch, aufbrausend – und immer wieder scheiternd. Pop-art und Theater der Grausamkeit: „Partner“ etwa, ein Bertolucci-Film von 1968, den dieses Jahr zu einem Film getrieben hat, der nur den Eindruck einer Magenverstimmung macht: aus zu viel Dostojewski, zu viel Artaud und zu viel Godard. Insgesamt eine Arbeit, bei der man den Eindruck gewinnt, der Regisseur wußte noch nicht, daß er einmal Bertolucci werden würde.
Eine Mauerinschrift des Mai 68 in Paris lautete: „Unter dem Pflaster ist der Strand“, was Godard, als er in der letzten Mai- und ersten Juniwoche des Jahres „One Plus One“ mit den Rolling Stones in London drehte, ins Englische übertrug: „Unter den Stones ist der Strand.“ Der Film ist eine karnevaleske Versuchsanordnung über die Entstehung des Stückes „Sympathy for the Devil“: Suggestionen und Metaphern, Parolen und Beschwörungen, Politik und Voodoo. Wenn „One Plus One“, wie Zwischentitel besagen, ein auf dem Schrotthaufen gefundener Film ist, dann wurde George Romeros „Nacht der lebenden Toten“ möglicherweise zwischen dem Ho-Chi- Minh-Pfad und einem Pittsburgher Soldatenfriedhof geboren. Eine, wie Frieda Grafe einmal schrieb, aus der Kontrolle geratene alptraumhafte Phantasie darüber, was von den Menschen übrig bleiben mag, wenn sie die Fesseln der Ordnung, von Privateigentum, Familie und Staat abwerfen, ohne sich in den vollen Besitz dessen gesetzt zu haben, was diese Gesellschaft hinterläßt.
Vermutlich hat es niemals sonst derartige Überlagerungen zwischen alternativen Lebensentwürfen, militanter Politszene, dem Kunst- und Musikmilieu sowie mit all dem vermengt, der Film-Community gegeben: In Agnès Vardas Film „The Black Panthers: A Report“ über einen Kongreß der Black Panthers anläßlich des Mordprozesses gegen Huey Newton, den man als Zelluloidflugblatt sehen kann, aber auch als Musikfilm, wird deutlich, wie die Black Panthers als damals Verfemte ein Erscheinungsbild von Politik kreierten, das sich gleichermaßen aus Posen der Popmusik wie der Militärs speiste und seither Eingang in alle politischen Lager fand.
Die Leinwandphysiognomie einer Chiffre: Was hat sich vom Mai 1968 in die tatsächliche Filmproduktion dieses Jahres eingeschrieben? Denn da ist natürlich nicht nur das Schillern der Revolte gewesen – dieser Zustand zwischen dem Anfang eines Endes, wie es in „Die Artisten in der Zirkuskuppel: Ratlos“ hieß, und dem Ende eines Anfangs, wie „One Plus One“ es formulierte – aber die gewisse „Morgenluft“ (Jonas Mekas) wurde auch in Filmen spürbar, die auf den ersten Blick unberührt von 68 waren und aus dem Innern der Industrie stammten, sich aber auf einmal hemmungslos anarchistisch an den Heiligtümern der Konsumgesellschaft und des Fortschritts zu vergreifen trauten, etwa „Ein Froschmann an der Angel“ von Jerry Lewis. Und einige Filme des „dritten Weges“: Arbeiten, die ganz stoisch scheinen; abseits vom Aufruhr und abseits vom Establishment entworfen; hergestellt von begnadeten Einzelgängern und aufs wunderbarste den Sound jenes magischen Augenblicks transportierend: Jacques Demy mit „Model Shop“ oder Jacques Tati mit „Playtime“ und nicht zuletzt auch Stanley Kubrick, dessen „2001“ allerdings für die Reihe nicht zur Verfügung stand, da der Film im Jahr 2001 mit großem Aufwand neu in die Kinos kommen soll. Ralph Eue
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