: „Wir haben uns die Niederlage handhabbar gemacht“
■ Vor zwei Monaten gab die Rote Armee Fraktion ihre Auflösung bekannt. Die Geschichte des bewaffneten Kampfes gegen die Bundesrepublik ist damit noch längst nicht erledigt. Auch weil die Erklärung viele Fragen offenließ. Karl-Heinz Dellwo, ehemaliges RAF-Mitglied, beginnt sie im Gespräch mit Petra Groll zu beantworten.
taz: Vor kurzem hat die RAF sich aufgelöst. Wer ist dazu berechtigt?
Karl-Heinz Dellwo: Die, die illegal sind und die sich zu Aktionen bekannt haben. Sie sind die letzten Vertreter der RAF. Sie haben einstimmig entschieden, und natürlich können sie das über eine Organisation, die ohne sie auch gar nicht mehr existieren würde.
Müßten sie das nicht absprechen, mit Gefangenen oder Ex-Gefangenen?
Nein. Bei uns existiert das Verhältnis nicht mehr, offen über alles zu reden und gemeinsam zu entscheiden. Die Illegalen mußten das allein tragen.
Wie bewertest du die Erklärung?
Mit anderen ehemaligen Gefangenen bin ich seit Jahren einig, daß so etwas kommen sollte. Was den Inhalt betrifft, ist offenkundig, daß es die späten Vertreter der RAF sind. Es wäre wahrscheinlich besser gewesen, die Erklärung über das Ende der Organisation nicht zu vermischen mit einer Reflexion über die ganze Phase des bewaffneten Kampfes. Mir scheint, daß bei ihnen die Zeit dafür noch nicht reif ist.
Woraus schließt du das?
Die Kritik bleibt immanent. Die Autoren stecken noch sehr in ihrem alten Konzept. Inzwischen muß man aus einer größeren Distanz darauf schauen. Für mich stellt sich schon die Frage, ob das Konzept Stadtguerilla nicht von vornherein zum Scheitern verurteilt war. Damals war die Zeit reif für eine Revolte, nicht aber für eine Revolution. Selbst wenn wir alle Fehler nicht gemacht hätten, wäre uns die Basis weggebrochen. Vielleicht stünden wir in der Niederlage anders da, aber auch das ist nicht gewiß.
Dann liest man in der Erklärung auch viel von Armut in der Welt, von Neoliberalismus, gegen den man kämpfen muß, und dieses flache Zeug. Ich kann nur sagen: Die Nachricht über die Unterdrückung führt uns nicht weiter. Menschen kämpfen, wenn sie konkret wissen, wie sie sich aus einem sie drückenden Zustand befreien können. Über die Aufhebung schlechter Verhältnisse müssen wir uns Gedanken machen. Dann braucht man diese langweiligen Begründungen und schlechten Rechtfertigungen nicht mehr, die gern in solche Texte reingeschrieben werden, als Strafe für uns, die sie lesen müssen.
Also hast du heute ein ganz anderes Politikverständnis?
Sicher. Aber frag' mich nicht nach einer konkreten Alternative. Ich habe keine. Unser Vorschlag war die RAF. Ab einer bestimmten Zeit ist der nicht mehr angenommen worden, das hätten wir akzeptieren und die Konsequenzen daraus ziehen sollen. Was immer das geheißen hätte, laß' ich offen. Das haben wir nicht getan. Infolgedessen hat sich unser Zusammenhang zersetzt.
Warum habt ihr die RAF nicht früher aufgelöst?
Aus dem Gefängnis heraus hatte niemand die Kompetenz dazu. Wenn es 1989 zur Zusammenlegung der Gefangenen gekommen wäre, dann hätten wir uns dazu sicher verhalten. Ich bin auch sicher, daß diese ganzen Aktionen nicht mehr gekommen wären, wie Rohwedder, Herrhausen, Weiterstadt wahrscheinlich auch nicht mehr. Wir wollten 1989 die ganze Sache neu diskutieren und hätten mit Sicherheit einen Vorschlag gemacht, an dem niemand aus unserem Zusammenhang hätte vorbeigehen können.
Draußen lief alles weiter, quasi auch in deinem Namen. Wie hast du dich dazu in Bezug gesetzt?
Unsere Erfahrung mit dem Hungerstreik '89 war erneut, daß es keinen Ausweg gibt. Ich habe damals die Position vertreten, daß es in diesem Land niemals eine politische Lösung in einer solchen Frage geben wird. Irgendwann entwickelt man in dieser Situation so eine Art gelassener Sturheit und einen Blick von außen. Ich weiß nicht, was wir hätten machen können. Ende 1991 hatte ich Helmut Pohl geschrieben, daß wir erklären sollten, schon ultimativ: Entweder wir kriegen jetzt die Zusammenlegung, oder wir führen einen Kampf zusammen mit den Illegalen, der darauf ausgerichtet ist, daß die andere Seite kräftig mitbezahlt. Es war eine destruktive Stimmung, die lieber ein Ende mit Schrecken wollte als dieses Bewegen im unendlich Zähen, ohne Aussicht auf eine Auflösung. Alles hatte auch unter uns zu immer entfremdeteren Reaktionen geführt, zu Schweigen, Depressionen, Flucht in abstrakte und idealistische Scheinklarheiten bis hin zur Ästhetisierung des Militärischen – man merkte, wir nähern uns einem Zerfall.
An welchem Punkt ist dir klar geworden, daß die RAF, das Konzept Stadtguerilla, nicht funktioniert?
Auf unmittelbarer Ebene war deutlich, daß auch nach zehn, fünfzehn Jahren unser Zusammenhang immer in etwa gleich groß blieb. Wir konnten uns reproduzieren, aber nie erweitern. Es hat sich weiter darin gezeigt, daß wir immer riesige Anstrengungen machen mußten, allein um unser bisheriges Niveau zu halten. Das Konzept Stadtguerilla war davon ausgegangen, daß die Gruppe der kleine Motor ist, der einen größeren in Gang setzt. Aber wir blieben immer Gruppe, wurden nie Bewegung.
Über uns brach gesellschaftlich nichts mehr auf, und, besonders gravierend, auch bei uns selbst änderte sich nichts mehr. Wir im Gefängnis waren ständig neu mit unserem Überleben beschäftigt, das hat einen großen Teil unserer Energie gefressen. Irgendwann haben wir festgestellt, daß die draußen auch nur dazu kamen, die militärischen Angelegenheiten der Gruppe zu stabilisieren. Wirklich neue Gedanken tauchten nicht auf. Die Gruppe hatte diese Potenz nicht. Ende der sechziger Jahre waren ein paar hunderttausend Leute erfaßt von dem radikalen Bedürfnis nach Veränderung der Gesellschaft und des eigenen Lebens. Aus diesem Aufbruch ist theoretisch viel entwickelt worden, und daraus hat die RAF am Anfang viel ziehen können. Diese Quelle gab es nicht mehr. Unsere Politik war ausgehungert, und in dem Moment weiß man: Die Sache ist gescheitert.
Ihr hättet eine andere Politik machen müssen.
Ihr könnt es nun besser machen.
Mit der Botschaftsbesetzung in Stockholm wolltet ihr die Gefangenen befreien. Wie sollte es weitergehen?
Die Verhaftungen 1972 waren für uns kein schlagender Beweis gegen das Konzept Stadtguerilla. Es war der erste Versuch, niemand hatte Erfahrung, Fehler waren normal. Das war auch bei anderen Stadtguerillagruppen in der Welt nicht anders. Da war ein Wille, Mut und auch Lust zum radikalen Bruch mit dem System, zum Herausfordern. Wir wollten uns in diese Gesellschaft nicht integrieren.
Wir wollten diesen Weg mit jenen weitergehen, die damals den Kampf begonnen, das Konzept entworfen hatten. Wir hatten an der Situation in den Gefängnissen erkannt, daß die damalige Generation an der Macht diejenigen, die wir als Vertreter unserer eigenen Generation betrachtet haben, fertig machen wollten. Das wollten wir nicht zulassen. Die Vorstellung zu Stockholm war: Wenn wir sie rausgeholt haben, dann reden wir, sehen, wie es weitergehen soll.
Wirklich mit offenem Ende?
Ganz offen war es wohl nicht. Aber wir hatten keine Strukturen angelegt für die Rückkehr und Fortsetzung des bewaffneten Kampfes.
Helmut Schmidt macht sich bis heute Vorwürfe, bei der Berliner Lorenz-Entführung 1974 durch die Bewegung 2. Juni nachgegeben zu haben. Er meint, Stockholm hätte dann verhindert werden können.
Im nachhinein kann ich sagen, für uns wäre es besser gewesen, dann hätten wir Stockholm vielleicht fallengelassen. Ich habe sehr darunter gelitten, im Knast zu sein, denn ich hätte gerne noch vieles gemacht. Ich will damit sagen: Wenn wir Stockholm nicht gemacht hätten, aus dem Grund eines Scheiterns der Lorenz-Entführung, dann hätten wir mit absoluter Sicherheit eine andere Befreiungsaktion entwickelt. Sie waren bei Holger Meins hart geblieben. Wir wußten schon alles über ihre Härte. Leute wie Schmidt sind darauf abgefahren, weil sie nur darüber vor sich zu einer Bedeutung kommen.
An uns prallte das schon damals ab. Ich habe die eisenfressende Rede von Schmidt nach dem Tod von Holger Meins nur noch mit kaltem Haß verfolgt und gewußt, das kriegen sie zurückbezahlt. Sie haben nur die Einschätzung bestärkt, die wir von ihnen hatten, und unsere Haltung, daß sie nichts gegen uns in der Hand haben, wenn wir alle Konsequenzen akzeptieren. Schmidt hat geholfen, die Konfrontation um 18 Jahre zu verlängern.
Habt ihr Stockholmer nicht eine Gangart eingeschlagen, die kaum zurückgedreht werden konnte? Wart ihr überhaupt zu Verhandlungen bereit?
Nein. Für uns stand von Anfang an fest, entweder wir kommen durch, oder wir sterben. Wir wollten den Trennungsstrich zwischen uns und ihnen eindeutig setzen. So oder so. In zwei oder drei Telefonaten während der Besetzung bot Ministerpräsident Olof Palme uns freien Abzug an. Das haben wir abgelehnt.
Heute kaum mehr nachvollziehbar.
Diese Haltung gab es damals überall in der Welt. „Sieg oder Tod“, diese Moral taucht in allen Befreiungskämpfen auf und zwar dann, wenn die Fronten eindeutig sind und keiner Erklärung mehr bedürfen. Die Palästinenser hatten uns damit beeindruckt, und in der RAF war sie auch schon existent: Zu dieser toten Gesellschaft aus Konsum und rechten Lebensvorstellungen hatten wir keine innere Verbindung, mit dem gewendeten Nazipack und den braven, immer in die eigene Tasche hineinwirtschaftenden Häuslebauern, die auf Bergen von Leichen ihrer Vorgesellschaft saßen, die für Imperialismus waren und für Vietnamkrieg und dafür, daß „die Neger erst mal arbeiten lernen“ sollten. Mit denen wollten wir nicht einem Tisch sitzen. Mit diesem postfaschistischen Staat nicht und mit seiner politischen Klasse aus Altnazis und seinen sozialdemokratischdeutschen Amerikanern nicht.
Der radikale Bruch mit allem fiel uns leicht. Aus diesem Bruch kam die Guerilla, und die hat, wie Gudrun Ensslin schrieb, „ihre eigene Art zu leben, zu kämpfen und auch zu sterben“.
1977 kam das Attentat auf Buback, der Entführungsversuch von Ponto, die Schleyer-Entführung. Waren das gemeinsame Überlegungen? Ihr mußtet doch in Erwägung gezogen haben, daß ihr in Stockholm scheitert.
Uns hatten andere versprochen, daß es weitergehen würde. Wie, hatten wir nicht konkret besprochen, nur mal einen Rahmen angedeutet. Stockholm war auch eine Aktion unter Zeitdruck. Andreas wollte, daß die Aktion vor Beginn des Stammheimer Prozesses läuft. Mehr war in der Zeit zwischen dem Tod von Holger Meins und dem Prozeßbeginn auch gar nicht auf die Beine zu stellen. Nicht mit der Anzahl der Leute, nicht mit unseren geringen Erfahrungen und auch nicht mit dem Material. Die danach weitergemacht haben, haben sich zwei Jahre Zeit geben können, denen ging's da besser.
Was hast du von der Schleyer-Entführung erwartet?
Mit der Entführung hatte ich keine Probleme. Aber wir hatten inzwischen einiges gelernt im Umgang mit der Macht. Ich hatte in den Nachrichten gehört, daß es vier oder fünf Tote gegeben hatte. Meine unmittelbare Reaktion damals war: Das ist zu hart. Man kann den Gegner in seinen Reaktionen auch festlegen, kann es ihm einfach machen, umgekehrt alles nur noch auf eine militärische Ebene zu bringen. Vier oder fünf Tote gleich zu Anfang, das war eine Eskalation. Man muß politisch und militärisch sehr stark sein, um das zu handhaben. Wo ist da noch Raum zur Vermittlung, wie kann man da noch sagen: Okay, jetzt reden wir. Wir hatten diese Stärke nicht.
Dann kam die „Landshut“-Entführung. Hattet ihr über Flugzeugentführungen gesprochen, als du noch in der Illegalität warst?
Nein. Ich wäre nie auf die Idee gekommen. Es gab '75 oder '76 einen Anschlag auf den Bremer Hauptbahnhof, der von den Gefangenen als Geheimdienstaktion bezeichnet wurde. Es hieß ausdrücklich: Aktionen der RAF richten sich nicht gegen das Volk. Das war die Regierungspropaganda der siebziger Jahre, von BKA und Verfassungsschutz: Wir würden etwas gegen die Zivilbevölkerung planen, Angriffe auf Fußballstadien, Kinder als Geiseln nehmen. Das war für uns eindeutig psychologische Kriegsführung.
Wie hast du dir dann diesen Schritt erklärt?
Der Hintergrund dieser Flugzeugentführung war mir nicht schlüssig. Politisch und moralisch bringt dich so etwas in die Defensive. Dann hab' ich versucht, mir das psychologisch zu erklären. Da wird 'ne Aktion gemacht, die der Regierung das Nachgeben erleichtern soll: Wenn sie bei Schleyer nicht nachgeben kann, dann doch für die Bevölkerung. Eine Möglichkeit, bei der die Regierung Sozialprestige gewinnen kann. Sowas denkt man sich dann. Aber unsere Analyse war immer, daß die Sozialdemokratie die Partei der Staatsraison ist. Das sprach dagegen.
Das heißt, du hattest schon damals Zweifel an dem Unternehmen?
Ich habe damals zu denen gehört, die den Kampf gewollt haben, und war auch nicht anders als sonst jemand. Jetzt rede ich mit meinem Bewußtsein von heute. In der Flugzeugentführung ist schon die Nachricht enthalten, daß der Kampf hier keine Perspektive hatte. Man kann nur dann so fundamental gegen seine eigenen Grundsätze verstoßen, wenn man nur noch einen Zweck verfolgt und danach das Terrain verlassen will.
Heute ist auch etwas anderes unverständlich: Bis zu der Flugzeugentführung haben die Illegalen die Offensive politisch bestimmt, und die Stammheimer hatten versucht, mit ihren Mitteln zu intervenieren. Aber in dem Moment, als das Flugzeug entführt war, stand das Kommando mit Schleyer im politischen Abseits. Sie haben ihre Aktion aus den Händen gegeben. Das politische Zentrum unserer Offensive war plötzlich im Flugzeug, bei einem Palästinenserkommando, das diese Aufgabe gar nicht erfüllen konnte. Die konnten nur von hier nach da fliegen und durch Terror im Flugzeug allem noch einen kleinen Dreh geben.
Terror gegen Unschuldige.
Unzweideutig. Ich rechtfertige nichts daran.
In seinem TV-Film letztes Jahr hat Heinrich Breloer betont, Andreas Baader habe der Bundesregierung während der Kontaktsperre angeboten, daß die ausgetauschten Gefangenen nicht bewaffnet weiterkämpfen, nicht in die BRD zurückkommen und nur noch politisch agieren. Hattet ihr vorher darüber gesprochen?
Ich kannte dazu keine Diskussion, aber diese Darstellung halte ich für real. Auch Irmgard Möller hat sie so bestätigt. Allein ist das jedoch nicht plausibel. Es macht keinen Sinn, in irgendeinem anderen Land zu sitzen und politische Erklärungen gegen die BRD abzugeben. Ich glaube nicht, daß Andreas Baader oder die Stammheimer überhaupt solchen schlechten Zukunftsvisionen nachhingen. Insoweit macht es nur Sinn als Versuch, wieder auf eine Vermittlungsebene zu kommen. Dann aber hätte alles neu zur Debatte gestanden, also auch die Frage, den bewaffneten Kampf einzustellen.
Wäre euch das möglich gewesen?
Mit Sicherheit nicht ohne eine Forderung wie z.B. die nach einer Amnestie für alle. Diese Frage hatte Andreas 1972 schon mal mit jemandem erörtert, sie dann aber wieder verworfen, weil sie damals keine Chance dafür gesehen hatten. – Man könnte die Zeit bis 1977 von uns aus deswegen auch als Versuch sehen, in eine Position zu kommen, in der für die ganze 68er-Linke am Ende eine der Macht abgerungene, wenigstens teilweise eigene Geschichte gestanden hätte, die das Nachkriegsverhältnis von unten verändert hätte. Dann hätte man weitersehen können. Das war jedenfalls als Potential in dieser ganzen Geschichte enthalten. Das ist auch ihre Legitimation. Wir haben das Potential in dieser Geschichte nicht fassen können, aus unserer Widersprüchlichkeit heraus. Das ist die Niederlage, die uns kränken muß.
Vorausgesetzt, es hätte die Einsicht gegeben, das Konzept funktioniert nicht.
Diese Einsicht war blockiert darüber, daß ein für uns ausreichendes Ergebnis nicht vorlag, und daß es auch sonst keinen Ausweg gab. Der revolutionäre Kampf war Krieg geworden, dahin hatten wir eskaliert, und davon ging nichts mehr runter, denn auch die Schmidt-Regierung wollte unbedingt diesen Krieg führen. Was der einzelne von sich empfunden hat, ist noch einmal etwas anderes. Aber als Gruppe haben wir nach '75 eine Art Flucht nach vorn gemacht, alles eingesetzt, um zu einem Ergebnis zu kommen, das uns Raum gibt, alles noch einmal neu zu denken. Dabei sind unsere Beine schneller gelaufen als der Kopf.
Am Ende waren wir noch tiefer in der Niederlage, viele waren tot, da konnte es gar kein Zurück mehr geben, allenfalls ein schäbiges. Die ganzen Dinge des Kampfes hatten längst ihr Eigengewicht. Auch ich hätte jeden politisch bekämpft, der nach '77 gesagt hätte, hört auf. Zwei, drei Jahre später ist mir dann aber auch klar gewesen, daß 1977 unser Entscheidungsjahr war. Da sind wir gescheitert.
Die Stammheimer Gefangenen haben damals massiven Druck gemacht, daß sie rausgeholt werden. Weißt du, wie sie die „Landshut“-Entführung bewertet haben?
Wir haben den Gründungskern, den politischen Kern der RAF geachtet. Ohne ihren Konsens hätten wir nichts gemacht. Das gilt sowohl für Stockholm als auch für die Schleyer-Aktion später. Was konkret gelaufen ist, weiß ich nicht. Aber wenn die draußen davon hätten ausgehen müssen, daß die Stammheimer das ablehnen, wäre diese Aktion nicht gekommen. Das ist völlig sicher.
Dann kamen in Mogadischu die Stürmung der „Landshut“ und in Stammheim die Selbstmorde der Gefangenen. Wie hast du das damals erlebt?
Es war ein ganz harter Schlag, wo du alles aufbieten mußtest, um das zu verdauen und dir gleichzeitig nichts anmerken zu lassen. Die Situation im Gefängnis war absolut terroristisch, Schlafentzug, Dauerbeobachtung, x-mal am Tag umkleiden, hysterische und prügelnde Wärter und diese ganze Latte an Stumpfheiten, für die sie dann ihre einzige große Phantasie entwickeln. Wir durften keine Schwäche zeigen. Ich wußte zuerst nicht, was für eine Position ich einnehmen sollte. Ich hab' alles für möglich gehalten. Ich war auch während der Kontaktsperre darauf eingestellt, daß jederzeit die Tür aufgehen und irgendetwas passieren kann. Sie hatten uns in diese Situation gebracht, um alles machen zu können. Das war die ganze Zeit klar.
Als ich bei mir dann wieder Raum geschaffen hatte, für eine Analyse, wurde mir nicht richtig plausibel, weshalb es die Bundesregierung getan haben sollte. Die Ermordung der Gefangenen mußte im Ausland alle Erinnerungen an das Dritte Reich hochkommen lassen. Aber das „Modell Deutschland“ der Sozialdemokratie hatte die Funktion, Deutschland auch international gegen den Nationalsozialismus abzugrenzen und darzustellen: „Wir sind ein anderes Land geworden.“ Sie hatten eine neue Repression entwickelt: Sie sollte wie Terror wirken, aber nicht so ausschauen. Sie sollte Sondermaßnahmen ermöglichen, aber das unter der Behauptung des Normalzustands.
Außerdem hatte die Regierung in Mogadischu für das Nationalbewußtsein einen großen Sieg errungen. Das war ihre Nachricht an die Welt: „Krieg gewonnen, diesmal ohne besondere Verbrechen. Wir sind auch militärisch wieder da!“ Der Tod der Gefangenen hat dieser Euphorie und ihrer demonstrativen Omnipotenz einen Knick gegeben. Auch das paßte nicht. Ich hatte allerdings keine Sicherheit, in keiner dieser Positionen.
Bis heute bestehen Zweifel an der offiziellen Darstellung. Jahr für Jahr wird gesprüht: Stammheim, das war Mord. Ist für dich alles geklärt?
Nein, noch lange nicht. Ich bin sicher, daß es noch geheimes Material gibt.
Wie sind deine Zweifel entstanden?
Die hingen zuerst mit der Tabuisierung der ganzen Sache bei uns zusammen. Dann hab' ich mir die Frage gestellt, was ich getan hätte, wäre ich '77 draußen und davon überzeugt gewesen, meine Freunde sind umgebracht worden. Ich hätte nichts unversucht gelassen, das aufzuklären. Die Gruppe in der Illegalität hätte sich anders verhalten müssen. Für uns Gefangene war klar, wenn es Mord war, wird man einen Hinweis finden. Und notfalls muß man mit militärischen Mitteln die Herausgabe von Abhörprotokollen oder sonstigem Material aus Stammheim erzwingen.
Demnach muß den RAF-Mitgliedern in der Illegalität klargewesen sein, daß die Gefangenen sich umgebracht haben.
Wenn man sich die Erklärungen von damals anschaut, dann findet man nur eine, nämlich die zum Tod von Schleyer, in der es überhaupt eine Definition der Stammheimer Ereignisse gibt. Dort wird von einem „Massaker“ gesprochen, sonst gibt es nichts. Das ist schon irritierend.
Hast du andere Hinweise auf einen Selbstmord, außer dieser Irritationen?
Die Erklärung von Irmgard Möller, daß sie in Stammheim keine Waffen zur Verfügung gehabt hätten, ist nachweislich nicht richtig. Sie haben über Waffen verfügt, die sind von den Illegalen ins Gefängnis geschickt worden. Die Darstellung von unserer Seite stimmt also auch an materiellen Punkten nicht. Letztlich kamen 1990 die Aussteiger und späteren Kronzeugen aus der DDR. Ein Teil hat von einem Gespräch 1977 berichtet, in dem die, die von Mord gesprochen haben, plötzlich kritisiert wurden: Sie sollten erkennen, die Gefangenen seien Subjekt gewesen. Das ist bestätigt.
Das Zitat wird Brigitte Mohnhaupt zugeschrieben.
Ja, aber ich spreche von einem RAF- Mitglied, das Ende der siebziger Jahre verhaftet worden ist und bei dieser Diskussion anwesend war. Von diesem wurde bereits damals diese Aussage gegenüber anderen Gefangenen gemacht. Davon haben ich und andere erst vor einem Jahr erfahren, und wir haben uns das nochmal bestätigen lassen. Ich will damit sagen, daß nicht sämtliche Aussagen der Kronzeugen vom Tisch gewischt werden können, mit dem Hinweis, alles, was sie gesagt haben, sei erkauft. Letztlich wehre ich mich heute auch dagegen, weil wir, die aufgebrochen sind, eine revolutionäre Bewegung anzustoßen, darin geendet sind, uns alle nur noch als Opfer darzustellen. In diese mentale Schublade gehört auch die Legende vom Mord an den Stammheimern. Das wird ihnen nicht gerecht.
Wir hatten eine bestimmte Art von Kampfmoral und haben es als emanzipatorisches Ziel gesehen, über uns selbst vollständig zu verfügen. Von Andreas Baader stammt der Satz, der zusammenfaßte, wie wir gedacht haben: „Das Projektil sind wir.“ Das war unsere Mentalität. Du machst dich selber zum Projektil gegen die Macht, die du zerstören willst. Im Mordgeschrei wird so getan, als hätten wir nie so gedacht.
Warum habt ihr nicht schon viel früher darüber gesprochen?
Irmgard Möller hatte damals diese Aussage gemacht, die wir alle von ihr erwartet haben. Jede Infragestellung von uns wäre auch ein Angriff auf Irmgard Möller gewesen. Und vor die Wahl gestellt, zu Irmgard zu halten oder irgendetwas zu machen, was dem Staat nützt, ist die Entscheidung ziemlich einfach. Aber nachdem heute auch offiziell das Ende der RAF feststeht, muß es möglich sein, darüber zu reden, auch mit Irmgard Möller. Sie ist seit dreieinhalb Jahren draußen, sie hat Freunde, sie ist nicht allein. Sie selbst äußert sich zu dieser Frage, erst letztes Jahr in ihrem Buch und in Zeitungsinterviews. Der Widerspruch zu Aussagen, die offenkundig nicht richtig sind, ist ihr jetzt zuzumuten.
Da habt ihr zu einer beachtlichen Mythenbildung beigetragen.
Wir waren mit der Mord-Behauptung in einer Sackgasse und zur Umwälzung, die stattfinden muß, nicht mehr in der Lage. So haben wir der Entstehung des Mythos zugeschaut und teilweise nachgeholfen.
Für dich hat der Tod von Holger Meins eine große Bedeutung gehabt. Kannst du dir vorstellen, daß der angebliche Mord an den Stammheimer Gefangenen, ein ähnlich mobilisierendes Moment für andere Leute gehabt hat?
Mich hat nicht der Tod von Holger Meins beeindruckt, sondern die Moral, nach der er gelebt hat. Was damals in seinem Brief zum Ausdruck kam: „bei aller Liebe zum Leben, den Tod verachten, dem Volke dienen“, das habe ich heute noch präsent. Diese Moral findest du auch in Che Guevaras Tagebüchern. Das hat mich mobilisiert. Daß die Regierung den Tod der Gefangenen gewollt hat, war für mich nur bedeutend für die Härte unserer Aktionen, für die Art, wie wir zurückgeschlagen haben. Ich glaube nicht, daß Repression irgendein mobilisierendes Moment hat.
Die Linke hat stets Zweifel an der Mordversion geäußert. Hättet ihr die aufnehmen können?
Es gab Überlegungen die letzten Jahre, aber es war sehr schwer. Es gab immer die Gefahr, daß man mit seinen Zweifeln auf die andere Seite gestellt wird. Dann ist die These vom Mord auch oft von anderen benutzt worden, um zu demonstrieren, wie radikal sie sind und was für einen Durchblick sie gegenüber dem Staat haben.
Aber letzten Sommer hast du dann in Italien darüber gesprochen. Warum im Ausland?
Der Widerspruch mußte außerhalb unserer Gruppe zum Ausdruck kommen und zwar so, daß er nicht zu einem sektiererischen Szenegehacke oder medial instrumentalisiert wird. Irmgard Möller sollte realisieren, daß der Widerspruch auch von unserer Seite auf sie zukommt und sie nicht weiter die Diskussion verweigern kann. Es ist natürlich in die Bundesrepublik zurückgetragen worden, und ich habe danach in einem Brief versucht, ihr einen Weg aufzuzeigen, auf dem wir unsere gemeinsame Unwahrheit wieder auflösen können. Aber sie stellt sich dem nicht.
Zurück zu euch. Ihr hättet Stammheim viel früher reflektieren müssen.
Dem kann ich nicht widersprechen. Ich kann das nur relativieren: Wir waren die ganze Zeit in Extremsituationen, und dort gelten andere Maßstäbe. Wir hatten eine verdiente Niederlage hinter uns, denn wir hatten 1977 mit allen Angriffen innerhalb und außerhalb des Gefängnisses einen Ausnahmezustand erzeugt und waren nicht in der Lage, darin unsere eigenen Kriterien aufrechtzuhalten. Wir haben sie nicht nur aufgegeben, wir haben gegen sie gehandelt und sie damit erst recht entwertet. Das war eine moralische und eine politische Diskreditierung.
Damals gab es eine lange Zeit, da war für mich nicht wichtig, was aus mir persönlich wird. Aber ich wollte unter keinen Umständen, daß die andere Seite triumphieren kann. Das hat mich oft noch in der tiefsten Depression aufrechtgehalten. Unsere Fehler haben ja nicht unsere Überzeugung zerstört, daß der Aufbruch richtig und der Kapitalismus einfach scheiße ist.
Wir hatten so viele Anstrengungen gemacht und so viele unserer Freunde waren tot, das sollte so nicht enden. Wir haben uns unsere Niederlage handhabbar gemacht, und dazu gehört auch unsere Darstellung zu Stammheim.
Draußen, in der Illegalität ist ein großer Teil der Gruppe nach 1977 ausgestiegen. Heißt das nicht, daß diese Leute damals der Meinung waren, ihr solltet aufhören?
Ich weiß nicht, was für eine Meinung sie hatten, und ob sie überhaupt etwas formuliert haben. Da sie Kronzeugen geworden sind, war ihr Weg auf jeden Fall falsch. Trotzdem hat ihr Weggehen natürlich etwas ausgedrückt. Es gibt von Bloch diesen Satz: „Am schlimmsten ist die falsche Erfüllung.“ Und ich glaube, für einen großen Teil derer, die ausgestiegen sind, traf das zu. Ihnen waren die Erfahrungen in der Illegalität zur großen Desillusionierung geworden...
...nach der Mystifizierung der Illegalität durch euch...
...jeder von uns hatte zuerst eine überhöhte Vorstellung von Illegalität, die wurde dann in der Praxis runtergeholt. Aber hier kam noch die Erfahrung mit einer falschen Politik und auch mit einer falschen Gruppenstruktur hinzu, die eine Dynamik entfesselt hatte, die über alle hinwegrollte. Genauso, wie wir im Knast uns die Niederlage kleingemacht haben, haben die draußen auch nicht alles an sich ranlassen können. Ich denke inzwischen, daß sie gar nicht auf ein Weitermachen eingestellt waren. Die meisten waren im Nahen Osten und hofften, daß der Austausch doch noch kommt. Dann wären alle erst einmal lange zusammen gewesen und es hätte eine Diskussion gegeben. Sie hatten also keine konkrete Strategie für die Zukunft und mußten aus einer unerwarteten Situation heraus weitermachen. – Die Aktionen nach '77, z.B. das Attentat auf Haig oder Kroesen, waren nur das Operieren auf einer alten Linie aus der Entstehungsphase der RAF. Das brachte denen, die total verunsichert waren, keinen neuen Halt. So sind sie dann gegangen.
Wie habt ihr diesen vielfachen Austritt interpretiert?
Gar nicht. Wir haben erst davon erfahren, als die ersten Verhaftungen in der aufgelösten DDR 1990 durch die Medien kamen...
Das verstehe ich nicht. Es gab doch Kommunikation zwischen Gefangenen und Illegalen. Wie konnte das nicht thematisiert werden?
Mit der Niederlage hatten sich unmögliche Strukturen verfestigt. An der Entwicklung der inneren Struktur, an der sich der soziale Widerspruch zum bürgerlichen System beweist, hat offenkundig niemand mehr gearbeitet: Die eigene Gruppe als eigener, starker Erfahrungszusammenhang ist nicht mehr gesucht worden. Das Ganze wurde zum Zusammenhang für Politikmachen nach außen. Damit aber waren wir kein Widerspruch mehr zum allgemeinen Politbetrieb in der Gesellschaft, außer daß wir bewaffnet waren. Das Weitermachen schien aus einer Art sturer Wut zu kommen, gegen ein Resultat, das wir zum Großteil selbst zu verantworten hatten.
Aber dazu wurde auch intern geschwiegen, jedenfalls den Gefangenen gegenüber, und heute ist offenkundig, daß sie auch untereinander nicht tiefgehender angesetzt haben. Sie entwickelten einen Hang zur autoritären Strukturierung: 1982 überraschten sie uns mit der Benennung von vier oder fünf Gefangenen, die unter sich die Politik der Gefangenen festlegen und sie dann den anderen „vermitteln“ sollten. Für die Öffentlichkeit kam das Frontpapier. Ohne auch nur eine einzige Diskussion.
Habt ihr das akzeptiert?
Nein. Auch von den Benannten schrieb jemand zurück, daß er diese Struktur nicht mitträgt. Damit war das auch erledigt. Aber aus dieser autoritären Struktur kamen keine Informationen an uns, die dazu hätten führen können, grundsätzlich etwas bei ihnen zur Debatte zu stellen. Über das Exil der Aussteiger in der DDR zu sprechen wäre sicher unmöglich gewesen. Aber sie hätten uns sagen müssen, daß die ganze Dynamik aus der Offensive '77 dazu geführt hat, daß ein großer Teil aus der Gruppe rausgegangen ist. Das Auseinanderfallen der Gruppe draußen war Teil unserer gemeinsamen Realität, und mit der will ich mich auseinandersetzen können. Was bei ihnen wichtig war, haben sie uns verschwiegen. Sie haben uns statt dessen etwas vorgespielt.
Welche Folgen hatte das?
Mit dem Auftauchen der Ausgestiegenen war die ganze weggeschobene Geschichte zu '77 schlagartig wieder auf dem Tisch. Es war klar, daß wir darüber reden mußten und nicht alles wieder auf später verschieben konnten, im Interesse der nächsten Überlegung, wie wir zur Zusammenlegung kommen. Das hatten wir die ganzen Jahre gemacht und alle internen Widersprüche vor uns aufgetürmt. Ich habe damals noch eine Anstrengung gemacht und eine Reflexion aus der Zeit von 1977 bis 1990 geschrieben. Aber ich bin gruppenintern damit gescheitert. Von Christian Klar kam als Antwort ein Brief an alle, daß er sich ab jetzt nichts mehr vorstellen kann mit mir; das war der Ausschlußvorschlag, und Helmut Pohl ließ als ersten Reflex ausrichten, er weigere sich, das Papier überhaupt zu lesen. Ein halbes Jahr später schrieb er eine Antwort, die mit meinem Text wenig zu tun hatte. Niemand hatte mehr Raum für solche Diskussionen.
Warum hast du den Text damals nicht veröffentlicht?
Wir hatten einen Begriff von Kollektivität, der das Heraustragen von Widersprüchen ausschloß. Heute sehe ich das als Fehler. Damals war mir aber klar, wenn ich den Text veröffentliche, führt das zum Bruch zwischen uns, und die Folgen waren absehbar: Es hätte alles geschwächt und die Regierung hätte alles abhaken können: „erledigt sich von allein“. Dafür wollte ich nicht verantwortlich sein, und ich wollte auch die Gruppe nicht verlieren, die meine Lebensentscheidung war. Gerettet hat dieses Zurückstecken nichts.
Du meinst die Spaltung...
Ja.
Das war 1993. Ihr Celler Gefangenen habt damals versucht, über Edzard Reuter und Ignatz Bubis mit der Regierung zu verhandeln. Die anderen Gefangenen waren davon nicht unterrichtet.
Es hat nie Verhandlungen gegeben. Ich bin dieser Vorwürfe müde. Schon die Darstellung von „den Cellern“ als homogener Block ist eine Fiktion. Aber sie sprach schon davon, daß man sich nur noch mit eigenen Reduktionen auseinandersetzte und nicht mehr mit realen Personen.
Und die Spaltung?
Die Kritik unter uns war in der Zeit nach 1990 immer härter geworden. Eine verbissene, auch wütende Zeit. Irgendwie wurde jeder gegenüber dem anderen resistent. Immer öfter hattest du den Eindruck, es werden unter der Hand Machtkämpfe ausgetragen.
Die, die 1977 und die Jahre danach draußen eine besondere Verantwortung hatten, waren mit dem Auftauchen der Ausgestiegenen und diesem Herausplappern von allem, was sie wußten, von den ganzen politischen, strukturellen, teils auch persönlichen Fehlern wieder eingeholt.
Die wichtige Ebene der Freundlichkeit zwischen uns war inzwischen verlorengegangen. Auch der Ton zwischen drinnen und draußen war harsch geworden und an einem Endpunkt angelangt.
An welcher Frage?
Ich kenne nicht alles. Aber ich glaube, daß einige Gefangene von den Illegalen erwartet hatten, daß ihre Erklärung vom April '92, diese Attentatsstrategie auszusetzen, früher hätte kommen müssen. Der Inhalt hätte auch anders aussehen sollen. Kollektivität hätte hier bedeutet, das zu ergänzen, was bei den anderen fehlt. Für diese Mühe aber wurde nichts mehr mobilisiert. Im Herbst 1992 haben sich die Illegalen dann nur noch an uns in Celle gewandt: Was wir denken, was man noch tun kann, damit von der Bundesregierung ein politischer Schritt kommt. Sie hofften, daß es irgendwann wieder mit allen zusammen geht, wenn sich etwas ändert.
Und dann seid ihr zu Reuter?
Wir sind überhaupt nicht zu Reuter. Wir haben auf unsere Situation geschaut – und die war trist. Mit der alten Politik von draußen konnten wir nichts anfangen. Wir fanden schon das Attentat auf Rohwedder sinnlos. Intern war alles frustriert und zerstritten. Die Linke draußen war nach dem Zusammenbruch des staatssozialistischen Lagers im rapiden Zerfallsprozeß. Wir hatten alles probiert, um einen politischen Ausweg zu eröffnen. Letzter Stand der Dinge war, daß die Bundesjustizministerin erklärt hatte: „Es wird weder eine Zusammenlegung geben noch eine politische Lösung!“
Für das, was wir Gefangenen hätten machen können, nämlich wieder einen Hungerstreik, gab es intern wie extern überhaupt keine politischen Voraussetzungen.
Aber auch, weil ihr euch nie Diskussionen von außen gestellt habt.
Nach dem Attentat auf Herrhausen hat es Meldungen gegeben, daß Vertreter der Wirtschaft auf die Bundesregierung Druck ausgeübt hatten, einen anderen Weg einzuschlagen, als nur auf Polizei und Repression zu setzen. Das war der Hintergrund der Kinkel- Initiative. Wir wollten über Dritte daran erinnern, daß am Ende alles auf die gleiche alte Logik hinausläuft, wenn auf der politischen Ebene weiter Beton gegossen wird. Wir wollten Druck auf die Regierung ausüben.
Ist es nicht Haarspalterei, so ein Gespräch nicht als Verhandlung zu bezeichnen?
Es wurde nichts verhandelt. Reuter ist nicht einmal in unserem Namen angesprochen worden. Ströbele hatte sich von den NRW-Grünen ein Mandat geben lassen, im RAF-Zusammenhang noch einmal zu versuchen, eine politische Lösung zu erreichen. Von uns war die Idee, daß sich Leute von außerhalb einmischen, und daß es jenseits von klirrenden öffentlichen Erklärungen läuft, die immer nur die alten Reflexe bestätigen. Deswegen wurde auch Ignatz Bubis angesprochen.
Bubis stand angesichts der damals aufkommenden rassistischen Anschläge und zunehmenden sozialen Brüche für die Forderung nach einem gesellschaftlichen Dialog und verlangte die Rückkehr des Politischen in diesen Konfrontationen. Wir konnten ihn respektieren und die Staatsseite genauso. Wir wollten ihm unsere Position darstellen und ihm vorschlagen, daß er eine Rundreise durch die Knäste macht, sich die der anderen anhört und dann öffentlich und institutionell vermittelt.
Was wolltet ihr erreichen?
Bewegung in Richtung einer politischen Lösung. Hauptsache, wir hätten die Möglichkeit, eine gemeinsame Position zu finden. Daß der Verfassungsschutz inzwischen den V-Mann Steinmetz an die Illegalen herangeschleust hatte, konnten wir nicht wissen. Da war jede Bereitschaft zu einer politischen Lösung dahin.
Über den Vorwurf, ihr würdet verhandeln und wolltet die Gruppe abwickeln, kam es aber zur Spaltung unter den Gefangenen.
Zum Schluß ist die RAF über die Spaltung „abgewickelt“ worden. Man könnte auch sagen, sie ist schon viele Jahre vorher „abgewickelt“ worden, mit dem Fallenlassen der Anstrengung, die Politik und die Struktur offenzuhalten und daran einen kollektiven Prozeß zu organisieren. Die RAF nach '77 war ihr spannungsloser Ersatz gegenüber vorher.
Die Vorwürfe, die Brigitte Mohnhaupt formuliert hat, waren einfach unlauter. Man kann uns natürlich kritisieren, aber daraus die Spaltung zu begründen, hatte ein anderes Interesse. Am Ende des Kampfes waren drei Sündenböcke gefunden, auf die alles abgeladen werden konnte: die Celler.
Wir waren schuld, daß das Konzept gescheitert ist, wir waren der Grund, daß man sich von den Illegalen absetzen konnte. Und die, die jahrelang die RAF-Politik erheblich bestimmt hatten, waren jetzt die Opfer mit sauberen politischen Absichten. Die innere Verschwörung war aufgedeckt – also nun zur Säuberung der eigenen Reihen! Hier zeigte sich, daß auch bei uns noch die ganzen Gespenster der kommunistischen Parteien lebendig waren, die sie nach ihrer Aufbruchphase und mit dem Hinwenden zum äußerlichen Rahmen, also zur Produktion eines Staates, herangelockt hatten.
Im Politischen bewegte sich bei uns ja auch alles nur noch im äußeren Feld des Feindkontaktes. „Revolutionäre Politik ist Strategie gegen ihre Strategie“, so war es 1982 im Frontpapier vereinfacht worden. Nach innen, sozusagen für das eigene Hinterland, wurde nichts mehr entwickelt.
Ätzend, euer Ton und eure Sprache.
Ja, es zeigte sich, daß bei uns die Fässer leer waren. Indem wir abgespalten wurden, sahen andere für sich darin die Erlaubnis, mit knüppelschwingenden Erklärungen in Erscheinung zu treten. Eine destruktive Kreativität. Zustimmungserklärungen ans Politibüro. Es produzierte für sechs Wochen die Illusion einer neuen Einheitlichkeit, danach war die Luft ganz draußen. Keiner von ihnen hatte eine Idee, wie es politisch weitergeht. Die radikale Geste endete im Gnadenantrag mit der Begründung, schon seit Jahren für das Ende des bewaffneten Kampfes gewesen zu sein. Mit zunehmender Distanz bekommt das Züge des Grotesken.
Ihr hattet damals 18 oder 19 Jahre Geschichte in der RAF. Wie kommt eine Ausgrenzung da an?
Das hat uns getroffen wie nie etwas zuvor. Ich hatte auch oft eine Wut auf andere, und manchmal hätte ich gern um mich gehauen. Aber jedem einzelnen hatte ich zugutegehalten, daß er oder sie etwas für die Gruppe will. – Ich will auch betonen, daß es nicht von allen drinnen mitgemacht worden ist und draußen inzwischen bei vielen ein solches Selbstbewußtsein da war, daß sie eigenständige Positionen entwickelten.
Nachdem Helmut Pohl begnadigt wurde, gibt es noch neun Gefangene aus der RAF. Was hältst du von Gnadenanträgen?
An der Form kritisiere ich nichts. Ich begrüße, daß er frei ist. Die Entlassungsfrage läuft auf den institutionellen Ebenen des Staates ab. Die Gefangenen können nur mit dem umgehen, was möglich ist. Es ist sinnlos, eine Moral des Durchhaltens zu leben, wenn dieses Durchhalten kein Ufer mehr hat, an dem alles anders wird. Also kann es auch ein Gnadenantrag sein. Jeder von ihnen muß raus, jeder von ihnen sitzt zu lange drin, und die letzten Jahre müssen für sie schlimmer gewesen sein als alles andere, denn die RAF war auch ihre Lebenskonzeption. Ich bin jedem dankbar, der sich hier einmischt und meine, gerade nach dem Auflösen der RAF, daß auch die, die beanspruchen, systemimmanent etwas verändern zu wollen, hier mit nach einer Lösung zur Freiheit suchen müssen.
Du meinst die Grünen?
Sicher. Insbesondere meine ich, daß die ehemaligen K-Grüppler und die Ex- Linksradikalen im Bundestag, die mit uns einen gemeinsamen Aufbruch hatten und die nun an der Macht teilhaben wollen, sich um die Freiheit der verbliebenen Gefangenen kümmern müssen. Für Christian Klar ist die Mindesthaftzeit auf 26 Jahre festgeschrieben worden. Da wird an einem exemplarisch für alles Rache genommen, wieder einmal zur Verabsolutierung der Staatsraison. – In Italien sind verurteilte Rotbrigadisten wie Mario Moretti, der Aldo Moro mitentführt und ihn später erschossen hat, oder Renato Curcio, einer der Brigadegründer, nach 16 bzw. 17 Jahren zumindest in den Freigang gekommen.
Aber einige Attentate sind noch nicht aufgeklärt.
Dafür kann man die Gefangenen nicht haftbar machen. Ich kann dazu aber auch sagen: Für den Tod von Holger Meins gibt es keine Verurteilung. Für den Kopfschuß an Wolfgang Grams gibt es keine Verurteilung. Für den Tod von Sigurd Debus im Hungerstreik nicht. Für die Erschießung von Elisabeth van Dyck gibt es keine, für die an Thomas Weissbecker auch nicht. Sie hatten keine Waffe in den Händen und waren umstellt. Für den Tod unbeteiligter Bürger wie Iain Macleod nicht, die während der Fahndung von der Polizei erschossen wurden, weil die Polizei oft die Devise hatte: „Erst schießen, dann fragen.“ Es gibt auch keine Verurteilung für Gewalt im Gefängnis und für Isolationsfolter.
Läßt du jetzt nicht die Toten außen vor, die ihr zu verantworten habt?
Wir haben die Gewalt nicht erfunden, wir sind auf gewaltsame Verhältnisse gestoßen, unter denen wir nicht leben konnten. Jeder Weg, irgendetwas grundsätzlich darin zu verändern, ist eisenhart versperrt worden. Damit sind wir nicht aus der Verantwortung, das ist mir völlig klar. Jede Gewalt, auch wenn sie für die Befreiung eingesetzt wird, hat eine dunkle, nicht zu rechtfertigende Seite, und darin bleiben wir auch schuldig. Aber wenn wir nur diese Seite sehen, werden wir bis ans Ende aller Tage hilflos und ohnmächtig vor Zuständen stehen, in denen Unterdrückung und Ausbeutung festgezurrt sind und die einen über die anderen leben.
Patrick von Braunmühl, der den Befreiungsideen nicht einmal verschlossen gegenübersteht, hat kürzlich im taz-Interview gesagt, er verstehe bis heute nicht, weshalb sein Vater erschossen wurde. Und er besteht auf Bestrafung.
Ich lehne eine Aufklärung dieser Aktion nicht mehr grundsätzlich ab. Aber auch die Illegitimitäten des Staates müssen dann untersucht und politisch bewertet werden. Die Aktion rechtfertige ich nicht. Die meisten Gefangenen haben sie für falsch gehalten. Zu ihrer Begründung kann ich nichts sagen. Sie enthielt nur rohe politische Vorstellungen und eine abstrakte Moral.
Und was sagst du den Angehörigen?
Ich kann ihnen nichts sagen, denn unsere Sicht der Dinge liegt zu weit auseinander. Ich respektiere grundsätzlich bei allen, daß sie einen privaten Blick haben. In dem Sinn ist jedem von ihnen Unrecht zugefügt worden. Das teilen sie mit einem großen Teil der Menschheit, die Hunger, Gewalt und Tod kennen, die um ihr Leben betrogen werden, obwohl die Verhältnisse geändert werden könnten.
Was soll aus den gesuchten Leuten werden? Sollen sie sich stellen?
Insgesamt war ich 21 Jahre im Gefängnis. Ich weiß, was auf sie zukommen würde. Wir haben die ehemaligen Aussteiger gesehen, die zehn Jahre bürgerliche Familie gelebt hatten vor ihrer Verhaftung, die andere und sich gegenseitig verraten mußten, um aus ihrer Situation herauszukommen, obwohl ihr Wissen vollständig veraltet und polizeitaktisch nutzlos war. Ich rate niemandem, sich zu stellen.
Was sollen sie machen?
Ich habe nichts, womit ich ihnen helfen kann. Allenfalls die Hoffnung, daß sich irgendwann die Bedingungen verändern und sie dann anders behandelt werden.
RAF, das war für uns Befreiung. So habt ihr das immer gesagt. Was war, wenn du jetzt zurückschaust, befreiend?
Das ist schwer zu beantworten. Von unserem Konzept ausgehend haben wir verloren. Seltsamerweise fühle ich mich nicht als Verlierer. Ich scheue mich, etwas Positives zum Schluß hervorheben zu müssen, denn es bekommt leicht den Charakter von schlechtem Trost. Aber ich glaube, wir hatten Momente, in denen der individuelle wie der kollektive Prozeß offen war.
Dahin bewegt sich mein Begriff von Befreiung: daß die individuelle wie kollektive gesellschaftliche Entwicklung offen ist. Und alles immer wieder auf die Ebene der grundsätzlichen Veränderbarkeit zurückgeholt werden kann. Ich weiß, es gibt eine andere Beziehung unter Menschen als die, die der Kapitalismus uns aufzwingt. Ich weiß, daß wir widerstehen können. Diese Erkenntnis ist für mich auch zwanzig Jahre Knast wert. Das ist nicht die Befreiung, aber es gibt dir eine unverzichtbare Freiheit.
Ich fühle mich inzwischen fremd in dieser Kultur, und das beruhigt mich, denn es spricht davon, daß wir vieles abgeworfen und uns von ihnen weit entfernt haben.
Hattet ihr einen Zukunftsentwurf?
Das hat sich immer verändert. Anfangs hab' auch ich die linken Ladenhüter mit mir herumgeschleppt: Sturz der Bourgeoisie, Diktatur des Proletariats, Vergesellschaftung der Produktionsmittel, Klassenkampf. Aber die waren dann nicht mehr so wichtig. Aufhebung von Vereinzelung, Entfremdung, Aufhebung von Tauschverhältnissen, Konkurrenz und Leistungskultur. Bruch mit Ausbeutung und Hierarchien unter den Menschen und diese ganzen Dinge, das war das, was mich angezogen hat in diesem Kampf. Das sind Fragmente eines anderen sozialen Lebens. Aber die Dimension einer anderen Gesellschaft hatten wir nicht, hat heute, wie ich glaube, noch niemand erfaßt.
Glaubst du, es ist möglich, hier und heute politisch etwas zu verändern?
Ich weiß nicht. Ich bin nicht in der Phase, in der ich darüber nachdenken kann. Aber die Verhältnisse werden so nicht bleiben. Sie können mit ihrem System sicher noch alles auf die Spitze treiben, aber damit werden auch die Grundlagen von noch funktionierenden gesellschaftlichen Selbstverständlichkeiten wegbrechen. Es gibt keine Legitimation, aus der unterschiedliche Bedürfniszuteilungen begründet werden können.
Es ist absurd, daß die einen arm und die anderen reich sind, daß die eingebrachte Arbeitszeit der einen anders bewertet wird, als die Arbeitszeit der anderen. Daß weltweit Millionen Menschen keine Zukunftsplanung haben und ziellos vor sich hin leben, andere in Hunger und Elend leben und so vieles mehr. Diese anachronistischen Zustände liegen offen, aber es gibt wenig Ideen, wie diese Zustände aufzuheben sind. Die Gegenkultur scheint in einer Phase blinden Herumstocherns zu sein.
Du bist jetzt seit drei Jahren aus dem Gefängnis. Wo stehst du eigentlich heute?
Irgendwann ist mir aufgefallen, daß nicht ein einziges Mal jemand die Frage gestellt hat: „He, was mache ich, wenn ich da drinnen bin, um durchzukommen?“ Das habe ich als sprachlosen Ausdruck dafür verstanden, wie abwesend der Gedanke an Revolte hier ist. Der Schiffbrüchige auf dem Floß schöpft Hoffnung, wenn er eine Möwe sieht, denn er hat dann die Gewißheit, daß Land in der Nähe ist. Unser Schiff ist untergegangen.
Ich sitze auf einem schlechten Floß, ich weiß nicht, was aus uns wird. Aber wenn irgendwann eine Möwe diese Frage bringt, dann stelle ich mich darauf ein, daß sich vielleicht doch noch alles ändern läßt.
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